wenn sie dergleichen schildert, wie Sue in seine Pariser Mysterien eine ärztliche genaue Beschreibung von St. Lazare, eine Deutsche Schriftstellerin, Julie Burow, in einen Roman: Frauenloos, die exacte Beschreibung der syphi¬ litischen Station eines Lazareths aufgenommen hat. Das sind Verirrungen einer Zeit, welche aus ihrem krankhaft pathologischen Interesse an der Corruption das Elend der Demoralisation für poetisch hält. Krankheiten, die zwar nicht infam sind, sondern mehr nur den Charakter der Cu¬ riosität haben, der sich in seltsamen Deformitäten und Aus¬ wüchsen kund gibt, sind auch nicht ästhetische Objecte, wie z. B. die Elephantiasis, die einen Fuß oder Arm schlauch¬ artig anschwellen läßt, so daß seine eigentliche Form ganz verloren geht.
Wohl aber darf die Kunst Krankheiten darstellen, die als eine elementarische Macht Tausende dahinraffen, indem dieselben theils als das Schicksal einer bloßen Naturgewalt, theils als ein göttliches Strafgericht erscheinen können. In diesem Fall nimmt die Krankheit, selbst wenn sie ekelhafte Formen in sich schließt, sogar einen schauerlich erhabenen Charakter an. Die Massen der Kranken geben sofort die Anschauung des Außerordentlichen und es entstehen malerische Contraste der Geschlechter, Altersstufen und Stände. Aesthe¬ tisch genommen wird aber für alle solche Scenen die Aufer¬ weckung des Lazarus den kanonischen Typus abgeben und das Leben als die ewige Macht des Todes dem Sterben siegreich gegenübertreten müssen. Der Anblick des massenhaften Sterbens allein, wie es Raffet in seinem Bilde vom Typhus der Französischrepublicanischen Armee in Mainz geschehen ist, würde uns niederdrücken, aber der Strahl des Lebens, der von der göttlichen Freiheit des Geistes ausgeht, läßt Siech¬
wenn ſie dergleichen ſchildert, wie Sue in ſeine Pariſer Myſterien eine ärztliche genaue Beſchreibung von St. Lazare, eine Deutſche Schriftſtellerin, Julie Burow, in einen Roman: Frauenloos, die exacte Beſchreibung der ſyphi¬ litiſchen Station eines Lazareths aufgenommen hat. Das ſind Verirrungen einer Zeit, welche aus ihrem krankhaft pathologiſchen Intereſſe an der Corruption das Elend der Demoraliſation für poetiſch hält. Krankheiten, die zwar nicht infam ſind, ſondern mehr nur den Charakter der Cu¬ rioſität haben, der ſich in ſeltſamen Deformitäten und Aus¬ wüchſen kund gibt, ſind auch nicht äſthetiſche Objecte, wie z. B. die Elephantiaſis, die einen Fuß oder Arm ſchlauch¬ artig anſchwellen läßt, ſo daß ſeine eigentliche Form ganz verloren geht.
Wohl aber darf die Kunſt Krankheiten darſtellen, die als eine elementariſche Macht Tauſende dahinraffen, indem dieſelben theils als das Schickſal einer bloßen Naturgewalt, theils als ein göttliches Strafgericht erſcheinen können. In dieſem Fall nimmt die Krankheit, ſelbſt wenn ſie ekelhafte Formen in ſich ſchließt, ſogar einen ſchauerlich erhabenen Charakter an. Die Maſſen der Kranken geben ſofort die Anſchauung des Außerordentlichen und es entſtehen maleriſche Contraſte der Geſchlechter, Altersſtufen und Stände. Aeſthe¬ tiſch genommen wird aber für alle ſolche Scenen die Aufer¬ weckung des Lazarus den kanoniſchen Typus abgeben und das Leben als die ewige Macht des Todes dem Sterben ſiegreich gegenübertreten müſſen. Der Anblick des maſſenhaften Sterbens allein, wie es Raffet in ſeinem Bilde vom Typhus der Franzöſiſchrepublicaniſchen Armee in Mainz geſchehen iſt, würde uns niederdrücken, aber der Strahl des Lebens, der von der göttlichen Freiheit des Geiſtes ausgeht, läßt Siech¬
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wenn ſie dergleichen ſchildert, wie Sue in ſeine Pariſer
Myſterien eine ärztliche genaue Beſchreibung von St. Lazare,
eine Deutſche Schriftſtellerin, Julie Burow, in einen
Roman: Frauenloos, die exacte Beſchreibung der ſyphi¬
litiſchen Station eines Lazareths aufgenommen hat. Das
ſind Verirrungen einer Zeit, welche aus ihrem krankhaft
pathologiſchen Intereſſe an der Corruption das Elend der
Demoraliſation für poetiſch hält. Krankheiten, die zwar
nicht infam ſind, ſondern mehr nur den Charakter der Cu¬
rioſität haben, der ſich in ſeltſamen Deformitäten und Aus¬
wüchſen kund gibt, ſind auch nicht äſthetiſche Objecte, wie
z. B. die Elephantiaſis, die einen Fuß oder Arm ſchlauch¬
artig anſchwellen läßt, ſo daß ſeine eigentliche Form ganz
verloren geht.
Wohl aber darf die Kunſt Krankheiten darſtellen, die
als eine elementariſche Macht Tauſende dahinraffen, indem
dieſelben theils als das Schickſal einer bloßen Naturgewalt,
theils als ein göttliches Strafgericht erſcheinen können. In
dieſem Fall nimmt die Krankheit, ſelbſt wenn ſie ekelhafte
Formen in ſich ſchließt, ſogar einen ſchauerlich erhabenen
Charakter an. Die Maſſen der Kranken geben ſofort die
Anſchauung des Außerordentlichen und es entſtehen maleriſche
Contraſte der Geſchlechter, Altersſtufen und Stände. Aeſthe¬
tiſch genommen wird aber für alle ſolche Scenen die Aufer¬
weckung des Lazarus den kanoniſchen Typus abgeben und das
Leben als die ewige Macht des Todes dem Sterben ſiegreich
gegenübertreten müſſen. Der Anblick des maſſenhaften Sterbens
allein, wie es Raffet in ſeinem Bilde vom Typhus der
Franzöſiſchrepublicaniſchen Armee in Mainz geſchehen iſt,
würde uns niederdrücken, aber der Strahl des Lebens, der
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/340>, abgerufen am 22.11.2024.
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