Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

die das Grab umstehen. Lazarus muß an seiner etwas
schemenhaften Gestalt und in seinen bleichen Zügen allerdings
verrathen, daß er schon eine Beute des Todes gewesen,
zugleich aber muß er zeigen, wie die Macht des Lebens den
Tod in ihm auch schon wieder aufgehoben hat.

Von der Krankheit ist schon in der Einleitung gehan¬
delt worden. Sie an sich ist nicht nothwendig widrig oder
gar ekelhaft. Dies wird sie erst, wenn sie den Organismus
in der Form der Verwesung zerstört und wenn wohl gar
das Laster die Ursache der Krankheit ist. In einem Atlas
der Anatomie und Pathologie zu wissenschaftlichen Zwecken
ist natürlich auch das Scheußlichste gerechtfertigt, für die
Kunst hingegen wird die ekelhafte Krankheit nur unter der
Bedingung darstellbar, daß ein Gegengewicht ethischer oder
religiöser Ideen mitgesetzt wird. Ein mit Schwären bedeckter
Hiob tritt unter die Reverbere der göttlichen Theodicee.
Der arme Heinrich von Hartmann von der Aue ist freilich
ein fast brutaler Gegenstand, der es schwer begreifen läßt,
weshalb die Deutschen ihn am häufigsten abgedruckt und der
Jugend tausendfach, im Original wie in den verschiedensten
Formen der Bearbeitung, dargeboten haben, indessen ist doch
bei ihm, wenngleich in sehr widrigen Nebenumständen, die
Idee des freien Opfers noch festgehalten. Le lepreux de la
ville
d'Aosta von Xavier de Maistre, ein höchst ergreifendes
Gemälde menschlicher Vereinsamung, basirt sich auf der Idee
der absoluten Resignation. Der antike Philoktetes leidet
am Fuß, weil die Schlange ihn an dem von Jason auf
Chryse bei Lemnos errichteten Altar darum gebissen hatte,
daß er ihn den Griechen zeigte u. s. w. Ekelhafte Krank¬
heiten, die auf einem unsittlichen Grunde beruhen, muß die
Kunst von sich ausschließen. Die Poesie prostituirt sich selbst,

die das Grab umſtehen. Lazarus muß an ſeiner etwas
ſchemenhaften Geſtalt und in ſeinen bleichen Zügen allerdings
verrathen, daß er ſchon eine Beute des Todes geweſen,
zugleich aber muß er zeigen, wie die Macht des Lebens den
Tod in ihm auch ſchon wieder aufgehoben hat.

Von der Krankheit iſt ſchon in der Einleitung gehan¬
delt worden. Sie an ſich iſt nicht nothwendig widrig oder
gar ekelhaft. Dies wird ſie erſt, wenn ſie den Organismus
in der Form der Verweſung zerſtört und wenn wohl gar
das Laſter die Urſache der Krankheit iſt. In einem Atlas
der Anatomie und Pathologie zu wiſſenſchaftlichen Zwecken
iſt natürlich auch das Scheußlichſte gerechtfertigt, für die
Kunſt hingegen wird die ekelhafte Krankheit nur unter der
Bedingung darſtellbar, daß ein Gegengewicht ethiſcher oder
religiöſer Ideen mitgeſetzt wird. Ein mit Schwären bedeckter
Hiob tritt unter die Reverbère der göttlichen Theodicee.
Der arme Heinrich von Hartmann von der Aue iſt freilich
ein faſt brutaler Gegenſtand, der es ſchwer begreifen läßt,
weshalb die Deutſchen ihn am häufigſten abgedruckt und der
Jugend tauſendfach, im Original wie in den verſchiedenſten
Formen der Bearbeitung, dargeboten haben, indeſſen iſt doch
bei ihm, wenngleich in ſehr widrigen Nebenumſtänden, die
Idee des freien Opfers noch feſtgehalten. Le lépreux de la
ville
d'Aosta von Xavier de Maiſtre, ein höchſt ergreifendes
Gemälde menſchlicher Vereinſamung, baſirt ſich auf der Idee
der abſoluten Reſignation. Der antike Philoktetes leidet
am Fuß, weil die Schlange ihn an dem von Jaſon auf
Chryſe bei Lemnos errichteten Altar darum gebiſſen hatte,
daß er ihn den Griechen zeigte u. ſ. w. Ekelhafte Krank¬
heiten, die auf einem unſittlichen Grunde beruhen, muß die
Kunſt von ſich ausſchließen. Die Poeſie proſtituirt ſich ſelbſt,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0339" n="317"/>
die das Grab um&#x017F;tehen. Lazarus muß an &#x017F;einer etwas<lb/>
&#x017F;chemenhaften Ge&#x017F;talt und in &#x017F;einen bleichen Zügen allerdings<lb/>
verrathen, daß er &#x017F;chon eine Beute des Todes gewe&#x017F;en,<lb/>
zugleich aber muß er zeigen, wie die Macht des Lebens den<lb/>
Tod in ihm auch &#x017F;chon wieder aufgehoben hat.</p><lb/>
                <p>Von der Krankheit i&#x017F;t &#x017F;chon in der Einleitung gehan¬<lb/>
delt worden. Sie an &#x017F;ich i&#x017F;t nicht nothwendig widrig oder<lb/>
gar ekelhaft. Dies wird &#x017F;ie er&#x017F;t, wenn &#x017F;ie den Organismus<lb/>
in der Form der Verwe&#x017F;ung zer&#x017F;tört und wenn wohl gar<lb/>
das La&#x017F;ter die Ur&#x017F;ache der Krankheit i&#x017F;t. In einem Atlas<lb/>
der Anatomie und Pathologie zu wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Zwecken<lb/>
i&#x017F;t natürlich auch das Scheußlich&#x017F;te gerechtfertigt, für die<lb/>
Kun&#x017F;t hingegen wird die ekelhafte Krankheit nur unter der<lb/>
Bedingung dar&#x017F;tellbar, daß ein Gegengewicht ethi&#x017F;cher oder<lb/>
religiö&#x017F;er Ideen mitge&#x017F;etzt wird. Ein mit Schwären bedeckter<lb/><hi rendition="#g">Hiob</hi> tritt unter die Reverb<hi rendition="#aq">è</hi>re der göttlichen Theodicee.<lb/>
Der <hi rendition="#g">arme Heinrich</hi> von Hartmann von der Aue i&#x017F;t freilich<lb/>
ein fa&#x017F;t brutaler Gegen&#x017F;tand, der es &#x017F;chwer begreifen läßt,<lb/>
weshalb die Deut&#x017F;chen ihn am häufig&#x017F;ten abgedruckt und der<lb/>
Jugend tau&#x017F;endfach, im Original wie in den ver&#x017F;chieden&#x017F;ten<lb/>
Formen der Bearbeitung, dargeboten haben, inde&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t doch<lb/>
bei ihm, wenngleich in &#x017F;ehr widrigen Nebenum&#x017F;tänden, die<lb/>
Idee des freien Opfers noch fe&#x017F;tgehalten. <hi rendition="#aq">Le lépreux de la<lb/>
ville</hi> <hi rendition="#aq #g">d'Aosta</hi> von Xavier de Mai&#x017F;tre, ein höch&#x017F;t ergreifendes<lb/>
Gemälde men&#x017F;chlicher Verein&#x017F;amung, ba&#x017F;irt &#x017F;ich auf der Idee<lb/>
der ab&#x017F;oluten Re&#x017F;ignation. Der antike <hi rendition="#g">Philoktetes</hi> leidet<lb/>
am Fuß, weil die Schlange ihn an dem von Ja&#x017F;on auf<lb/>
Chry&#x017F;e bei Lemnos errichteten Altar darum gebi&#x017F;&#x017F;en hatte,<lb/>
daß er ihn den Griechen zeigte u. &#x017F;. w. Ekelhafte Krank¬<lb/>
heiten, die auf einem un&#x017F;ittlichen Grunde beruhen, muß die<lb/>
Kun&#x017F;t von &#x017F;ich aus&#x017F;chließen. Die Poe&#x017F;ie pro&#x017F;tituirt &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[317/0339] die das Grab umſtehen. Lazarus muß an ſeiner etwas ſchemenhaften Geſtalt und in ſeinen bleichen Zügen allerdings verrathen, daß er ſchon eine Beute des Todes geweſen, zugleich aber muß er zeigen, wie die Macht des Lebens den Tod in ihm auch ſchon wieder aufgehoben hat. Von der Krankheit iſt ſchon in der Einleitung gehan¬ delt worden. Sie an ſich iſt nicht nothwendig widrig oder gar ekelhaft. Dies wird ſie erſt, wenn ſie den Organismus in der Form der Verweſung zerſtört und wenn wohl gar das Laſter die Urſache der Krankheit iſt. In einem Atlas der Anatomie und Pathologie zu wiſſenſchaftlichen Zwecken iſt natürlich auch das Scheußlichſte gerechtfertigt, für die Kunſt hingegen wird die ekelhafte Krankheit nur unter der Bedingung darſtellbar, daß ein Gegengewicht ethiſcher oder religiöſer Ideen mitgeſetzt wird. Ein mit Schwären bedeckter Hiob tritt unter die Reverbère der göttlichen Theodicee. Der arme Heinrich von Hartmann von der Aue iſt freilich ein faſt brutaler Gegenſtand, der es ſchwer begreifen läßt, weshalb die Deutſchen ihn am häufigſten abgedruckt und der Jugend tauſendfach, im Original wie in den verſchiedenſten Formen der Bearbeitung, dargeboten haben, indeſſen iſt doch bei ihm, wenngleich in ſehr widrigen Nebenumſtänden, die Idee des freien Opfers noch feſtgehalten. Le lépreux de la ville d'Aosta von Xavier de Maiſtre, ein höchſt ergreifendes Gemälde menſchlicher Vereinſamung, baſirt ſich auf der Idee der abſoluten Reſignation. Der antike Philoktetes leidet am Fuß, weil die Schlange ihn an dem von Jaſon auf Chryſe bei Lemnos errichteten Altar darum gebiſſen hatte, daß er ihn den Griechen zeigte u. ſ. w. Ekelhafte Krank¬ heiten, die auf einem unſittlichen Grunde beruhen, muß die Kunſt von ſich ausſchließen. Die Poeſie proſtituirt ſich ſelbſt,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/339
Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/339>, abgerufen am 22.11.2024.