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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Das furchtbarste Product dieser Sphäre, le nom de Famille
von August Luchet, ist glücklicherweise, so viel uns be¬
kannt, nicht ins Deutsche übersetzt. Die kindische, im letzten
Decennium bis zu einem für eine große Nation scandalösen
Wetteifer ausgeartete Gier der Deutschen, die Romane der
Engländer und Franzosen zu übersetzen, während sie noch
erscheinen und bevor noch ein Urtheil über ihren ethischen
und ästhetischen Werth möglich ist, erklärt vielleicht die
Schwäche, die wir selber auf diesem Gebiet zeigen. Nur im
Ritter- und Räuberroman begehen auch wir noch immer
die empörendsten Verbrechen mit einer gewissen naiven Origi¬
nalität, die aber zu geschmacklos ist, das Interesse der Fran¬
zosen und Engländer zu erregen und ihnen zur Uebersetzung
Lust einzuflößen (75).

Gehen wir aus der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft
heraus, so wird das Verbrechen wiederum ästhetischer durch
Motive, welche den höhern Gebieten des Staates oder der
Religion entnommen sind, denn mit solcher Begründung
wird der Einzelne aus dem beschränkten Kreise kleinlich
egoistischer Antriebe und untergeordneter Zufälligkeiten heraus
gerissen. Die Verbrechen, die begangen werden, sind mate¬
riell dieselben, wie in der bürgerlichen Sphäre, Verrath,
Ehebruch, Gewaltthat, Mord. Allein indem sie ihren Ur¬
sprung aus allgemeineren Verhältnissen entnehmen, erwerben
sie sich das Recht einer gewissen Nothwendigkeit, und indem
mit dem Leben hervorragender, insbesondere fürstlicher Per¬
sönlichkeiten, unmittelbar große Veränderungen des Staats
und der Gesellschaft unmittelbar verknüpft sind, steigert sich
unsere Theilnahme. Durch die Verwicklung der großen
Mächte des Lebens werden Conflicte möglich, die den Ein¬
zelnen schuldig werden lassen, indem er doch zugleich nicht

Das furchtbarſte Product dieſer Sphäre, le nom de Famille
von Auguſt Luchet, iſt glücklicherweiſe, ſo viel uns be¬
kannt, nicht ins Deutſche überſetzt. Die kindiſche, im letzten
Decennium bis zu einem für eine große Nation ſcandalöſen
Wetteifer ausgeartete Gier der Deutſchen, die Romane der
Engländer und Franzoſen zu überſetzen, während ſie noch
erſcheinen und bevor noch ein Urtheil über ihren ethiſchen
und äſthetiſchen Werth möglich iſt, erklärt vielleicht die
Schwäche, die wir ſelber auf dieſem Gebiet zeigen. Nur im
Ritter- und Räuberroman begehen auch wir noch immer
die empörendſten Verbrechen mit einer gewiſſen naiven Origi¬
nalität, die aber zu geſchmacklos iſt, das Intereſſe der Fran¬
zoſen und Engländer zu erregen und ihnen zur Ueberſetzung
Luſt einzuflößen (75).

Gehen wir aus der Sphäre der bürgerlichen Geſellſchaft
heraus, ſo wird das Verbrechen wiederum äſthetiſcher durch
Motive, welche den höhern Gebieten des Staates oder der
Religion entnommen ſind, denn mit ſolcher Begründung
wird der Einzelne aus dem beſchränkten Kreiſe kleinlich
egoiſtiſcher Antriebe und untergeordneter Zufälligkeiten heraus
geriſſen. Die Verbrechen, die begangen werden, ſind mate¬
riell dieſelben, wie in der bürgerlichen Sphäre, Verrath,
Ehebruch, Gewaltthat, Mord. Allein indem ſie ihren Ur¬
ſprung aus allgemeineren Verhältniſſen entnehmen, erwerben
ſie ſich das Recht einer gewiſſen Nothwendigkeit, und indem
mit dem Leben hervorragender, insbeſondere fürſtlicher Per¬
ſönlichkeiten, unmittelbar große Veränderungen des Staats
und der Geſellſchaft unmittelbar verknüpft ſind, ſteigert ſich
unſere Theilnahme. Durch die Verwicklung der großen
Mächte des Lebens werden Conflicte möglich, die den Ein¬
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[329/0351] Das furchtbarſte Product dieſer Sphäre, le nom de Famille von Auguſt Luchet, iſt glücklicherweiſe, ſo viel uns be¬ kannt, nicht ins Deutſche überſetzt. Die kindiſche, im letzten Decennium bis zu einem für eine große Nation ſcandalöſen Wetteifer ausgeartete Gier der Deutſchen, die Romane der Engländer und Franzoſen zu überſetzen, während ſie noch erſcheinen und bevor noch ein Urtheil über ihren ethiſchen und äſthetiſchen Werth möglich iſt, erklärt vielleicht die Schwäche, die wir ſelber auf dieſem Gebiet zeigen. Nur im Ritter- und Räuberroman begehen auch wir noch immer die empörendſten Verbrechen mit einer gewiſſen naiven Origi¬ nalität, die aber zu geſchmacklos iſt, das Intereſſe der Fran¬ zoſen und Engländer zu erregen und ihnen zur Ueberſetzung Luſt einzuflößen (75). Gehen wir aus der Sphäre der bürgerlichen Geſellſchaft heraus, ſo wird das Verbrechen wiederum äſthetiſcher durch Motive, welche den höhern Gebieten des Staates oder der Religion entnommen ſind, denn mit ſolcher Begründung wird der Einzelne aus dem beſchränkten Kreiſe kleinlich egoiſtiſcher Antriebe und untergeordneter Zufälligkeiten heraus geriſſen. Die Verbrechen, die begangen werden, ſind mate¬ riell dieſelben, wie in der bürgerlichen Sphäre, Verrath, Ehebruch, Gewaltthat, Mord. Allein indem ſie ihren Ur¬ ſprung aus allgemeineren Verhältniſſen entnehmen, erwerben ſie ſich das Recht einer gewiſſen Nothwendigkeit, und indem mit dem Leben hervorragender, insbeſondere fürſtlicher Per¬ ſönlichkeiten, unmittelbar große Veränderungen des Staats und der Geſellſchaft unmittelbar verknüpft ſind, ſteigert ſich unſere Theilnahme. Durch die Verwicklung der großen Mächte des Lebens werden Conflicte möglich, die den Ein¬ zelnen ſchuldig werden laſſen, indem er doch zugleich nicht

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/351>, abgerufen am 22.11.2024.