sollten. Seiner Natur nach ist das Genie geduldig, je un¬ sterblicher es ist, desto besser versteht es zu warten. Wo ist das Genie auf der Welt, das nicht gewartet hätte stand¬ haft, gleich dem alten Horaz, bis die Reihe an ihn ge¬ kommen war? Treibt Ihr nicht diese jungen ungeduldigen Geister zur Empörung, die nicht einsehen, daß die Jugend selbst schon ein sehr großes Gut ist und undankbar gegen den Himmel sind, sich nicht glücklich zu fühlen, daß sie jung sind? Befördert nicht durch Eure ungestümen Klagen, durch Eure betrüglichen Beschwerden die Handlungen des Selbst¬ mords. Der Tod Guilberts, Malfilatres, Chattertons hat schon viel Uebel angerichtet. -- Unter diesem Gesichtspunct ist der Chatterton Alfred de Vigny's eine beklagenswerthe und mörderische Composition. Stellen Sie sich einen Dichter vor, der während ganzer fünf Acte umhergeht und gegen die Gesellschaft declamirt, weil er kein Kleid und kein Brod hat. Aber Arbeit hat er; warum arbeitet er nicht? Welches Privilegium hat er, daß man zu ihm gehen sollte, ehe man ihn an seinen Werken erkennt? Ein unerbittlicher Gläubiger will Chatterton in das Gefängniß werfen lassen. Er gehe doch in das Gefängniß; dort wird er genährt und beherbergt und kann ganz nach Willkür dichten; größere Dichter als Chatterton lebten in Fesseln und weniger bequem. Sheridan selbst, war er nicht ein Gefangener des Os alienum und war er um deshalb weniger Sheridan? Der Lordmayor bietet Chatterton den Platz seines ersten Kammerdieners an, und Chatterton verweigert es. J. J. Rousseau war weniger stolz; er hat die Livree getragen und war doch Jean Jacques, und wenn er sich getödtet hat, so geschah es heimlich, ver¬ borgen, nachdem er Heloise, Emile und den contrat social geschrieben hatte".
ſollten. Seiner Natur nach iſt das Genie geduldig, je un¬ ſterblicher es iſt, deſto beſſer verſteht es zu warten. Wo iſt das Genie auf der Welt, das nicht gewartet hätte ſtand¬ haft, gleich dem alten Horaz, bis die Reihe an ihn ge¬ kommen war? Treibt Ihr nicht dieſe jungen ungeduldigen Geiſter zur Empörung, die nicht einſehen, daß die Jugend ſelbſt ſchon ein ſehr großes Gut iſt und undankbar gegen den Himmel ſind, ſich nicht glücklich zu fühlen, daß ſie jung ſind? Befördert nicht durch Eure ungeſtümen Klagen, durch Eure betrüglichen Beſchwerden die Handlungen des Selbſt¬ mords. Der Tod Guilberts, Malfilatres, Chattertons hat ſchon viel Uebel angerichtet. — Unter dieſem Geſichtspunct iſt der Chatterton Alfred de Vigny's eine beklagenswerthe und mörderiſche Compoſition. Stellen Sie ſich einen Dichter vor, der während ganzer fünf Acte umhergeht und gegen die Geſellſchaft declamirt, weil er kein Kleid und kein Brod hat. Aber Arbeit hat er; warum arbeitet er nicht? Welches Privilegium hat er, daß man zu ihm gehen ſollte, ehe man ihn an ſeinen Werken erkennt? Ein unerbittlicher Gläubiger will Chatterton in das Gefängniß werfen laſſen. Er gehe doch in das Gefängniß; dort wird er genährt und beherbergt und kann ganz nach Willkür dichten; größere Dichter als Chatterton lebten in Feſſeln und weniger bequem. Sheridan ſelbſt, war er nicht ein Gefangener des Os alienum und war er um deshalb weniger Sheridan? Der Lordmayor bietet Chatterton den Platz ſeines erſten Kammerdieners an, und Chatterton verweigert es. J. J. Rouſſeau war weniger ſtolz; er hat die Livrée getragen und war doch Jean Jacques, und wenn er ſich getödtet hat, ſo geſchah es heimlich, ver¬ borgen, nachdem er Heloiſe, Emile und den contrat social geſchrieben hatte“.
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ſollten. Seiner Natur nach iſt das Genie geduldig, je un¬
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das Genie auf der Welt, das nicht gewartet hätte ſtand¬
haft, gleich dem alten Horaz, bis die Reihe an ihn ge¬
kommen war? Treibt Ihr nicht dieſe jungen ungeduldigen
Geiſter zur Empörung, die nicht einſehen, daß die Jugend
ſelbſt ſchon ein ſehr großes Gut iſt und undankbar gegen
den Himmel ſind, ſich nicht glücklich zu fühlen, daß ſie jung
ſind? Befördert nicht durch Eure ungeſtümen Klagen, durch
Eure betrüglichen Beſchwerden die Handlungen des Selbſt¬
mords. Der Tod Guilberts, Malfilatres, Chattertons hat
ſchon viel Uebel angerichtet. — Unter dieſem Geſichtspunct
iſt der Chatterton Alfred de Vigny's eine beklagenswerthe
und mörderiſche Compoſition. Stellen Sie ſich einen Dichter
vor, der während ganzer fünf Acte umhergeht und gegen
die Geſellſchaft declamirt, weil er kein Kleid und kein Brod
hat. Aber Arbeit hat er; warum arbeitet er nicht? Welches
Privilegium hat er, daß man zu ihm gehen ſollte, ehe man
ihn an ſeinen Werken erkennt? Ein unerbittlicher Gläubiger
will Chatterton in das Gefängniß werfen laſſen. Er gehe
doch in das Gefängniß; dort wird er genährt und beherbergt
und kann ganz nach Willkür dichten; größere Dichter als
Chatterton lebten in Feſſeln und weniger bequem. Sheridan
ſelbſt, war er nicht ein Gefangener des Os alienum und war
er um deshalb weniger Sheridan? Der Lordmayor bietet
Chatterton den Platz ſeines erſten Kammerdieners an, und
Chatterton verweigert es. J. J. Rouſſeau war weniger
ſtolz; er hat die Livrée getragen und war doch Jean Jacques,
und wenn er ſich getödtet hat, ſo geſchah es heimlich, ver¬
borgen, nachdem er Heloiſe, Emile und den contrat social
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/433>, abgerufen am 22.11.2024.
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