winnt einen großen Spielraum. Diese symbolische Darstel¬ lung folgt den Wandlungen der Geschichte, den Untergang ihrer bedeutendern Gestalten in den Widersprüchen zu schildern, die aus ihrer empirisch unvermeidlichen Beschränktheit sich allmälig entwickeln. So ist z. B. unser Deutsches Volks¬ buch von den Schild- oder Lalenbürgern eine solche Caricatur, die ohne alle persönliche Beziehung das Lächer¬ liche des in seine Bornirtheit vertieften Spießbürgerthums mit wahrem Humor geißelt. So ist in Wernhers mittel¬ hochdeutschem Gedicht: Helmbrecht, die Verliederlichung des Bauern- und Ritterthums in ein wüstes, schlampiges Räuberleben trefflich geschildert. So hat die Periode der Julimonarchie den Typus des Robert Macaire hervor¬ gebracht d. h. des allgemein organisirten Betruges. Macaire, mit seinem Genossen Bertrand, ist überall, auf der Tribune, auf der Börse, im Salon, am Spieltisch, bei der ärztlichen Consultation, im Cabriolet u. s. w., Macaire wohlbeleibt, im Frack, im Glanzhut, mit dickem seidenem Halstuch, bril¬ lanter Brustnadel, möglichst einnehmend; sein Helfershelfer Bertrand mit einer knappen Mütze in abgetragenen Kleidern, langen beuteligen Taschen zum Einfuppen von allem Mög¬ lichen, mit schlottrigem Gange, bloßem dürrem Halse, confis¬ cirten Mienen voll spitzbübischer Unschuld. Auch die Bilder gehören hieher, welche die Nationen sich epochenweis von einander entwerfen, wie wenn wir von Bruder Jonathan in Amerika, von John Bull in England, von Michel in Deutschland u. s. w. sprechen. In China bedient sich sogar die Regierung der symbolischen Caricatur, das Opiumrauchen zu verfolgen, indem sie alle Stadien des Untergangs eines Unglücklichen auf Bildern darstellen läßt, der durch den Genuß des Opiums endlich allem menschlichen Gefühl, allem
winnt einen großen Spielraum. Dieſe ſymboliſche Darſtel¬ lung folgt den Wandlungen der Geſchichte, den Untergang ihrer bedeutendern Geſtalten in den Widerſprüchen zu ſchildern, die aus ihrer empiriſch unvermeidlichen Beſchränktheit ſich allmälig entwickeln. So iſt z. B. unſer Deutſches Volks¬ buch von den Schild- oder Lalenbürgern eine ſolche Caricatur, die ohne alle perſönliche Beziehung das Lächer¬ liche des in ſeine Bornirtheit vertieften Spießbürgerthums mit wahrem Humor geißelt. So iſt in Wernhers mittel¬ hochdeutſchem Gedicht: Helmbrecht, die Verliederlichung des Bauern- und Ritterthums in ein wüſtes, ſchlampiges Räuberleben trefflich geſchildert. So hat die Periode der Julimonarchie den Typus des Robert Macaire hervor¬ gebracht d. h. des allgemein organiſirten Betruges. Macaire, mit ſeinem Genoſſen Bertrand, iſt überall, auf der Tribune, auf der Börſe, im Salon, am Spieltiſch, bei der ärztlichen Conſultation, im Cabriolet u. ſ. w., Macaire wohlbeleibt, im Frack, im Glanzhut, mit dickem ſeidenem Halstuch, bril¬ lanter Bruſtnadel, möglichſt einnehmend; ſein Helfershelfer Bertrand mit einer knappen Mütze in abgetragenen Kleidern, langen beuteligen Taſchen zum Einfuppen von allem Mög¬ lichen, mit ſchlottrigem Gange, bloßem dürrem Halſe, confis¬ cirten Mienen voll ſpitzbübiſcher Unſchuld. Auch die Bilder gehören hieher, welche die Nationen ſich epochenweis von einander entwerfen, wie wenn wir von Bruder Jonathan in Amerika, von John Bull in England, von Michel in Deutſchland u. ſ. w. ſprechen. In China bedient ſich ſogar die Regierung der ſymboliſchen Caricatur, das Opiumrauchen zu verfolgen, indem ſie alle Stadien des Untergangs eines Unglücklichen auf Bildern darſtellen läßt, der durch den Genuß des Opiums endlich allem menſchlichen Gefühl, allem
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winnt einen großen Spielraum. Dieſe ſymboliſche Darſtel¬
lung folgt den Wandlungen der Geſchichte, den Untergang
ihrer bedeutendern Geſtalten in den Widerſprüchen zu ſchildern,
die aus ihrer empiriſch unvermeidlichen Beſchränktheit ſich
allmälig entwickeln. So iſt z. B. unſer Deutſches Volks¬
buch von den Schild- oder Lalenbürgern eine ſolche
Caricatur, die ohne alle perſönliche Beziehung das Lächer¬
liche des in ſeine Bornirtheit vertieften Spießbürgerthums
mit wahrem Humor geißelt. So iſt in Wernhers mittel¬
hochdeutſchem Gedicht: Helmbrecht, die Verliederlichung
des Bauern- und Ritterthums in ein wüſtes, ſchlampiges
Räuberleben trefflich geſchildert. So hat die Periode der
Julimonarchie den Typus des Robert Macaire hervor¬
gebracht d. h. des allgemein organiſirten Betruges. Macaire,
mit ſeinem Genoſſen Bertrand, iſt überall, auf der Tribune,
auf der Börſe, im Salon, am Spieltiſch, bei der ärztlichen
Conſultation, im Cabriolet u. ſ. w., Macaire wohlbeleibt,
im Frack, im Glanzhut, mit dickem ſeidenem Halstuch, bril¬
lanter Bruſtnadel, möglichſt einnehmend; ſein Helfershelfer
Bertrand mit einer knappen Mütze in abgetragenen Kleidern,
langen beuteligen Taſchen zum Einfuppen von allem Mög¬
lichen, mit ſchlottrigem Gange, bloßem dürrem Halſe, confis¬
cirten Mienen voll ſpitzbübiſcher Unſchuld. Auch die Bilder
gehören hieher, welche die Nationen ſich epochenweis von
einander entwerfen, wie wenn wir von Bruder Jonathan
in Amerika, von John Bull in England, von Michel in
Deutſchland u. ſ. w. ſprechen. In China bedient ſich ſogar
die Regierung der ſymboliſchen Caricatur, das Opiumrauchen
zu verfolgen, indem ſie alle Stadien des Untergangs eines
Unglücklichen auf Bildern darſtellen läßt, der durch den
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/445>, abgerufen am 21.11.2024.
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