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Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778.

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Lehrer des menschlichen Geschlechts.
crates, ein Plato, und andere heydnische Welt-
weise hätten eben so vortrefliche Tugendlehren vor-
getragen, als unser göttlicher Erlöser. Aber die-
ienige, die im Ernste so reden können, beweisen
deutlich, daß sie weder mit den Lehren iener Welt-
weisen, noch mit der Lehre des Christenthums hin-
länglich bekannt sind. Tugendlehren -- gesetzt
die heydnischen Weltweisen hätten sie in ihrem völ-
ligen Umfange vorgetragen; hätten vollkommen ge-
wust, wie ein Mensch sich gegen Gott, seine Mit-
geschöpfe und gegen sich selbst zu verhalten hat, so
daß ihnen nicht das Geringste entgangen wäre,
(welches doch offenbar falsch ist,) gesetzt aber sie
hätten gewust, was sie zuverläßig nicht wusten,
würden sie deßwegen verdienen unserm Erlöser an
die Seite gesetzt zu werden? Tugendlehren sind
freylich sehr nöthig und heilsam, und dieienige gros-
se Männer des Heydenthums, die ihre natürlichen
Einsichten redlich gebrauchten, und zum Besten ih-
rer Zeitgenoßen anwanden, die verdienen Achtung
und Lob. Aber heist denn das schon dem Men-
schen den Weg zur ewigen Seeligkeit zeigen, wenn
man ihm nur Tugendlehren vorpredigt? Nicht
einmahl tugendhaft in dem Verstand, wie es seyn
soll, kan der Mensch werden, wenn ihm nur ge-
sagt wird, was er zu thun und zu laßen hat, oh-
ne ihm solche Beweggründe vorzulegen, die einem
recht tiefen Eindruck in seine Seele machen, und
seine ganze Denkungsart verändern. Aber was
wusten denn iene, zu ihren Zeiten wirklich große
Männer? Was konnten sie noch außerdem von dem
Wege zur Vereinigung mit Gott, von iener See-

ligkeit

Lehrer des menſchlichen Geſchlechts.
crates, ein Plato, und andere heydniſche Welt-
weiſe hätten eben ſo vortrefliche Tugendlehren vor-
getragen, als unſer göttlicher Erlöſer. Aber die-
ienige, die im Ernſte ſo reden können, beweiſen
deutlich, daß ſie weder mit den Lehren iener Welt-
weiſen, noch mit der Lehre des Chriſtenthums hin-
länglich bekannt ſind. Tugendlehren — geſetzt
die heydniſchen Weltweiſen hätten ſie in ihrem völ-
ligen Umfange vorgetragen; hätten vollkommen ge-
wuſt, wie ein Menſch ſich gegen Gott, ſeine Mit-
geſchöpfe und gegen ſich ſelbſt zu verhalten hat, ſo
daß ihnen nicht das Geringſte entgangen wäre,
(welches doch offenbar falſch iſt,) geſetzt aber ſie
hätten gewuſt, was ſie zuverläßig nicht wuſten,
würden ſie deßwegen verdienen unſerm Erlöſer an
die Seite geſetzt zu werden? Tugendlehren ſind
freylich ſehr nöthig und heilſam, und dieienige groſ-
ſe Männer des Heydenthums, die ihre natürlichen
Einſichten redlich gebrauchten, und zum Beſten ih-
rer Zeitgenoßen anwanden, die verdienen Achtung
und Lob. Aber heiſt denn das ſchon dem Men-
ſchen den Weg zur ewigen Seeligkeit zeigen, wenn
man ihm nur Tugendlehren vorpredigt? Nicht
einmahl tugendhaft in dem Verſtand, wie es ſeyn
ſoll, kan der Menſch werden, wenn ihm nur ge-
ſagt wird, was er zu thun und zu laßen hat, oh-
ne ihm ſolche Beweggründe vorzulegen, die einem
recht tiefen Eindruck in ſeine Seele machen, und
ſeine ganze Denkungsart verändern. Aber was
wuſten denn iene, zu ihren Zeiten wirklich große
Männer? Was konnten ſie noch außerdem von dem
Wege zur Vereinigung mit Gott, von iener See-

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[125/0137] Lehrer des menſchlichen Geſchlechts. crates, ein Plato, und andere heydniſche Welt- weiſe hätten eben ſo vortrefliche Tugendlehren vor- getragen, als unſer göttlicher Erlöſer. Aber die- ienige, die im Ernſte ſo reden können, beweiſen deutlich, daß ſie weder mit den Lehren iener Welt- weiſen, noch mit der Lehre des Chriſtenthums hin- länglich bekannt ſind. Tugendlehren — geſetzt die heydniſchen Weltweiſen hätten ſie in ihrem völ- ligen Umfange vorgetragen; hätten vollkommen ge- wuſt, wie ein Menſch ſich gegen Gott, ſeine Mit- geſchöpfe und gegen ſich ſelbſt zu verhalten hat, ſo daß ihnen nicht das Geringſte entgangen wäre, (welches doch offenbar falſch iſt,) geſetzt aber ſie hätten gewuſt, was ſie zuverläßig nicht wuſten, würden ſie deßwegen verdienen unſerm Erlöſer an die Seite geſetzt zu werden? Tugendlehren ſind freylich ſehr nöthig und heilſam, und dieienige groſ- ſe Männer des Heydenthums, die ihre natürlichen Einſichten redlich gebrauchten, und zum Beſten ih- rer Zeitgenoßen anwanden, die verdienen Achtung und Lob. Aber heiſt denn das ſchon dem Men- ſchen den Weg zur ewigen Seeligkeit zeigen, wenn man ihm nur Tugendlehren vorpredigt? Nicht einmahl tugendhaft in dem Verſtand, wie es ſeyn ſoll, kan der Menſch werden, wenn ihm nur ge- ſagt wird, was er zu thun und zu laßen hat, oh- ne ihm ſolche Beweggründe vorzulegen, die einem recht tiefen Eindruck in ſeine Seele machen, und ſeine ganze Denkungsart verändern. Aber was wuſten denn iene, zu ihren Zeiten wirklich große Männer? Was konnten ſie noch außerdem von dem Wege zur Vereinigung mit Gott, von iener See- ligkeit

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Zitationshilfe: Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenmueller_betrachtungen_1789/137>, abgerufen am 24.11.2024.