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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863.

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Es dauert alsdann nicht lange, daß man von den Knospen einen
Schritt weiter geht. Mit der Berücksichtigung ihrer Stellung muß man
nothwendig die Stellung der Triebe am Zweige, weiter gehend die der
Zweige an den Aesten, der Aeste am Stamme beachten und so wird man
ganz unwillkürlich von den feinern, gesucht sein wollenden, immer mehr
und mehr zu den mehr in das Auge fallenden, sich von selbst darbietenden
Unterscheidungscharakteren geleitet. Es ist dabei ein unerwartetes Er-
gebniß, daß man zuletzt oft weniger Mühe hat, einen winterlichen Baum
sicher zu unterscheiden, als einen im Laubschmuck vor uns stehenden.
Die verhüllende Laubornamentik verbirgt uns zuweilen, wegen ihrer
großen Aehnlichkeit bei verschiedenen Baumarten, die mehr in das Auge
fallenden architektonischen Merkmale.

Ich kann nach den vorhin angedeuteten Erfolgen versichern, daß
unsre Landschaften sicher gewinnen werden, wenn die Künstler mit größerer
Aufmerksamkeit auf die charakteristischen Merkmale der verschiedenen
Baumarten mehr achten werden, als es bisher geschehen. Dabei ist
allerdings nicht zu leugnen, daß die zu lösende Aufgabe eine sehr schwierige
ist. Wir wissen, daß der Baum kein in sich abgeschlossenes, jemals
fertig werdendes Individuum ist, dessen Gestalt, um seine Art wieder zu
geben, wir einfach blos nachzubilden brauchten. Eine vor uns stehende
Eiche könnte recht füglich zwei oder drei starke Aeste mehr oder weniger
haben, als sie eben hat, oder diese könnten anders gebogen und ge-
schwungen sein, als sie es sind, sie würde nicht weniger eine Eiche
bleiben. Es liegt also der Charakter der Eiche nicht in den angedeuteten
Verhältnissen allein, er liegt eben in einem charakteristischen Ensemble,
welches mit fein auswählendem Blick erkannt sein will.

Für angehende Landschafter möchte es eine sehr zu empfehlende
Uebung sein, bei ihren Baumstudien so zu verfahren, daß sie zunächst
ausgewählte und leicht wieder zu findende Bäume vor der Belaubung
treu abzeichnen und im hohen Sommer bei voller Belaubung diese
gewissermaaßen nachträglich hinzufügen. Die Studien des Historien-
malers werden ja eben so gemacht; eine bekleidete Figur wird erst unbe-
kleidet skizzirt und erst nachher die Gewandung hinzugefügt.

Wenn an der vorhin angezogenen Stelle besonders hervorgehoben
wurde, daß man jetzt auf den Landschaftsbildern nur zu häufig mehr

Es dauert alsdann nicht lange, daß man von den Knospen einen
Schritt weiter geht. Mit der Berückſichtigung ihrer Stellung muß man
nothwendig die Stellung der Triebe am Zweige, weiter gehend die der
Zweige an den Aeſten, der Aeſte am Stamme beachten und ſo wird man
ganz unwillkürlich von den feinern, geſucht ſein wollenden, immer mehr
und mehr zu den mehr in das Auge fallenden, ſich von ſelbſt darbietenden
Unterſcheidungscharakteren geleitet. Es iſt dabei ein unerwartetes Er-
gebniß, daß man zuletzt oft weniger Mühe hat, einen winterlichen Baum
ſicher zu unterſcheiden, als einen im Laubſchmuck vor uns ſtehenden.
Die verhüllende Laubornamentik verbirgt uns zuweilen, wegen ihrer
großen Aehnlichkeit bei verſchiedenen Baumarten, die mehr in das Auge
fallenden architektoniſchen Merkmale.

Ich kann nach den vorhin angedeuteten Erfolgen verſichern, daß
unſre Landſchaften ſicher gewinnen werden, wenn die Künſtler mit größerer
Aufmerkſamkeit auf die charakteriſtiſchen Merkmale der verſchiedenen
Baumarten mehr achten werden, als es bisher geſchehen. Dabei iſt
allerdings nicht zu leugnen, daß die zu löſende Aufgabe eine ſehr ſchwierige
iſt. Wir wiſſen, daß der Baum kein in ſich abgeſchloſſenes, jemals
fertig werdendes Individuum iſt, deſſen Geſtalt, um ſeine Art wieder zu
geben, wir einfach blos nachzubilden brauchten. Eine vor uns ſtehende
Eiche könnte recht füglich zwei oder drei ſtarke Aeſte mehr oder weniger
haben, als ſie eben hat, oder dieſe könnten anders gebogen und ge-
ſchwungen ſein, als ſie es ſind, ſie würde nicht weniger eine Eiche
bleiben. Es liegt alſo der Charakter der Eiche nicht in den angedeuteten
Verhältniſſen allein, er liegt eben in einem charakteriſtiſchen Enſemble,
welches mit fein auswählendem Blick erkannt ſein will.

Für angehende Landſchafter möchte es eine ſehr zu empfehlende
Uebung ſein, bei ihren Baumſtudien ſo zu verfahren, daß ſie zunächſt
ausgewählte und leicht wieder zu findende Bäume vor der Belaubung
treu abzeichnen und im hohen Sommer bei voller Belaubung dieſe
gewiſſermaaßen nachträglich hinzufügen. Die Studien des Hiſtorien-
malers werden ja eben ſo gemacht; eine bekleidete Figur wird erſt unbe-
kleidet ſkizzirt und erſt nachher die Gewandung hinzugefügt.

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[235/0259] Es dauert alsdann nicht lange, daß man von den Knospen einen Schritt weiter geht. Mit der Berückſichtigung ihrer Stellung muß man nothwendig die Stellung der Triebe am Zweige, weiter gehend die der Zweige an den Aeſten, der Aeſte am Stamme beachten und ſo wird man ganz unwillkürlich von den feinern, geſucht ſein wollenden, immer mehr und mehr zu den mehr in das Auge fallenden, ſich von ſelbſt darbietenden Unterſcheidungscharakteren geleitet. Es iſt dabei ein unerwartetes Er- gebniß, daß man zuletzt oft weniger Mühe hat, einen winterlichen Baum ſicher zu unterſcheiden, als einen im Laubſchmuck vor uns ſtehenden. Die verhüllende Laubornamentik verbirgt uns zuweilen, wegen ihrer großen Aehnlichkeit bei verſchiedenen Baumarten, die mehr in das Auge fallenden architektoniſchen Merkmale. Ich kann nach den vorhin angedeuteten Erfolgen verſichern, daß unſre Landſchaften ſicher gewinnen werden, wenn die Künſtler mit größerer Aufmerkſamkeit auf die charakteriſtiſchen Merkmale der verſchiedenen Baumarten mehr achten werden, als es bisher geſchehen. Dabei iſt allerdings nicht zu leugnen, daß die zu löſende Aufgabe eine ſehr ſchwierige iſt. Wir wiſſen, daß der Baum kein in ſich abgeſchloſſenes, jemals fertig werdendes Individuum iſt, deſſen Geſtalt, um ſeine Art wieder zu geben, wir einfach blos nachzubilden brauchten. Eine vor uns ſtehende Eiche könnte recht füglich zwei oder drei ſtarke Aeſte mehr oder weniger haben, als ſie eben hat, oder dieſe könnten anders gebogen und ge- ſchwungen ſein, als ſie es ſind, ſie würde nicht weniger eine Eiche bleiben. Es liegt alſo der Charakter der Eiche nicht in den angedeuteten Verhältniſſen allein, er liegt eben in einem charakteriſtiſchen Enſemble, welches mit fein auswählendem Blick erkannt ſein will. Für angehende Landſchafter möchte es eine ſehr zu empfehlende Uebung ſein, bei ihren Baumſtudien ſo zu verfahren, daß ſie zunächſt ausgewählte und leicht wieder zu findende Bäume vor der Belaubung treu abzeichnen und im hohen Sommer bei voller Belaubung dieſe gewiſſermaaßen nachträglich hinzufügen. Die Studien des Hiſtorien- malers werden ja eben ſo gemacht; eine bekleidete Figur wird erſt unbe- kleidet ſkizzirt und erſt nachher die Gewandung hinzugefügt. Wenn an der vorhin angezogenen Stelle beſonders hervorgehoben wurde, daß man jetzt auf den Landſchaftsbildern nur zu häufig mehr

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Zitationshilfe: Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/259>, abgerufen am 17.06.2024.