Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.kann also bei ihrem Geben durchaus keine Reflexion statt finden, und man muß sie ja nicht dafür lo- ben. Aber wenn Jda von dem Apfel oder der Birne, die ihr sehr gut schmeckt, jedem, den sie lieb hat, ein Stückchen reicht; oder wenn sie von zwei schönen Blumen gleich eine abgeben muß: wer sollte nicht, von dem Anblick ergriffen, das Kind liebend anlächeln? wer kann sich enthalten, es ans Herz zn drücken? Gibt es denn etwas holdseligers, als diese milde Natur? Tugend sind solche Regungen im Kinde nicht; aber es sind Paradiesesblumen, die auch den trauernden Men- schen, der den Glauben und die Liebe verloren, himmlisch erquicken. Als unser Herr auf Erden wandelte und der verschmitzten Bosheit mit hei- ligem göttlichem Zorne zürnte: da erquickte auch ihn der Anblick der Unschuld, und er mußte sie an sich ziehen, mußte sie herzen, und der verhär- teten Art umher zum Beispiel aufstellen. Wetten wollt' ich wohl, daß Jda den Rosen- kann alſo bei ihrem Geben durchaus keine Reflexion ſtatt finden, und man muß ſie ja nicht dafür lo- ben. Aber wenn Jda von dem Apfel oder der Birne, die ihr ſehr gut ſchmeckt, jedem, den ſie lieb hat, ein Stückchen reicht; oder wenn ſie von zwei ſchönen Blumen gleich eine abgeben muß: wer ſollte nicht, von dem Anblick ergriffen, das Kind liebend anlächeln? wer kann ſich enthalten, es ans Herz zn drücken? Gibt es denn etwas holdſeligers, als dieſe milde Natur? Tugend ſind ſolche Regungen im Kinde nicht; aber es ſind Paradieſesblumen, die auch den trauernden Men- ſchen, der den Glauben und die Liebe verloren, himmliſch erquicken. Als unſer Herr auf Erden wandelte und der verſchmitzten Bosheit mit hei- ligem göttlichem Zorne zürnte: da erquickte auch ihn der Anblick der Unſchuld, und er mußte ſie an ſich ziehen, mußte ſie herzen, und der verhär- teten Art umher zum Beiſpiel aufſtellen. Wetten wollt’ ich wohl, daß Jda den Roſen- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0115" n="101"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> kann alſo bei ihrem Geben durchaus keine Reflexion<lb/> ſtatt finden, und man muß ſie ja nicht dafür lo-<lb/> ben. Aber wenn Jda von dem Apfel oder der<lb/> Birne, die ihr ſehr gut ſchmeckt, jedem, den ſie<lb/> lieb hat, ein Stückchen reicht; oder wenn ſie von<lb/> zwei ſchönen Blumen gleich eine abgeben muß:<lb/> wer ſollte nicht, von dem Anblick ergriffen, das<lb/> Kind liebend anlächeln? wer kann ſich enthalten,<lb/> es ans Herz zn drücken? Gibt es denn etwas<lb/> holdſeligers, als dieſe milde Natur? Tugend<lb/> ſind ſolche Regungen im Kinde nicht; aber es ſind<lb/> Paradieſesblumen, die auch den trauernden Men-<lb/> ſchen, der den Glauben und die Liebe verloren,<lb/> himmliſch erquicken. Als unſer Herr auf Erden<lb/> wandelte und der verſchmitzten Bosheit mit hei-<lb/> ligem göttlichem Zorne zürnte: da erquickte auch<lb/> ihn der Anblick der Unſchuld, und er mußte ſie<lb/> an ſich ziehen, mußte ſie herzen, und der verhär-<lb/> teten Art umher zum Beiſpiel aufſtellen.</p><lb/> <p>Wetten wollt’ ich wohl, daß Jda den Roſen-<lb/> kranz nicht ſich, ſondern Dir aufſetzt, und ſich<lb/> jubelnd im Kreiſe herumdreht, wenn ſie ihr<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [101/0115]
kann alſo bei ihrem Geben durchaus keine Reflexion
ſtatt finden, und man muß ſie ja nicht dafür lo-
ben. Aber wenn Jda von dem Apfel oder der
Birne, die ihr ſehr gut ſchmeckt, jedem, den ſie
lieb hat, ein Stückchen reicht; oder wenn ſie von
zwei ſchönen Blumen gleich eine abgeben muß:
wer ſollte nicht, von dem Anblick ergriffen, das
Kind liebend anlächeln? wer kann ſich enthalten,
es ans Herz zn drücken? Gibt es denn etwas
holdſeligers, als dieſe milde Natur? Tugend
ſind ſolche Regungen im Kinde nicht; aber es ſind
Paradieſesblumen, die auch den trauernden Men-
ſchen, der den Glauben und die Liebe verloren,
himmliſch erquicken. Als unſer Herr auf Erden
wandelte und der verſchmitzten Bosheit mit hei-
ligem göttlichem Zorne zürnte: da erquickte auch
ihn der Anblick der Unſchuld, und er mußte ſie
an ſich ziehen, mußte ſie herzen, und der verhär-
teten Art umher zum Beiſpiel aufſtellen.
Wetten wollt’ ich wohl, daß Jda den Roſen-
kranz nicht ſich, ſondern Dir aufſetzt, und ſich
jubelnd im Kreiſe herumdreht, wenn ſie ihr
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |