Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.länger in dem weichen Klima mütterlicher Pflege und Aufsicht athmen! Wie bald Dein Mann zu- rückkommen kann, ist ungewiß. Woldemar ist neun Jahre alt. Er ist ein kräftiger, feuriger Knabe; aber wenn er länger ausschließend mit Dir lebt, wird sein Herz zu weich, seine Phan- tasie zu weiblich. Selbst der beständige Umgang mit dem zarten Schwesterchen stimmt ihn für sein Geschlecht zu weich. Suche Dir in dem Kreise Deiner Bekanntschaft länger in dem weichen Klima mütterlicher Pflege und Aufſicht athmen! Wie bald Dein Mann zu- rückkommen kann, iſt ungewiß. Woldemar iſt neun Jahre alt. Er iſt ein kräftiger, feuriger Knabe; aber wenn er länger ausſchließend mit Dir lebt, wird ſein Herz zu weich, ſeine Phan- taſie zu weiblich. Selbſt der beſtändige Umgang mit dem zarten Schweſterchen ſtimmt ihn für ſein Geſchlecht zu weich. Suche Dir in dem Kreiſe Deiner Bekanntſchaft <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0121" n="107"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> länger in dem weichen Klima mütterlicher Pflege<lb/> und Aufſicht athmen! Wie bald Dein Mann zu-<lb/> rückkommen kann, iſt ungewiß. Woldemar iſt<lb/> neun Jahre alt. Er iſt ein kräftiger, feuriger<lb/> Knabe; aber wenn er länger ausſchließend mit<lb/> Dir lebt, wird ſein Herz zu weich, ſeine Phan-<lb/> taſie zu weiblich. Selbſt der beſtändige Umgang<lb/> mit dem zarten Schweſterchen ſtimmt ihn für ſein<lb/> Geſchlecht zu weich.</p><lb/> <p>Suche Dir in dem Kreiſe Deiner Bekanntſchaft<lb/> einen würdigen jungen Mann zum Erzieher für<lb/> ihn; mache mit dieſem, wenn Du ihn gefunden,<lb/> einen gemeinſchaftlichen Erziehungsplan für dieſen<lb/> herrlichen Knaben; lege ihn dann ſeinem Vater<lb/> vor, und wenn der ihn ſanctionirt hat, dann<lb/> mache Dich ſtark, ihn recht treu zu befolgen.<lb/> Schenke dem Manne, den Du werth gehalten,<lb/> ihm dieſen koſtbaren Schatz zu übergeben, Dein<lb/> ganzes Vertrauen. Weißt Du in Deinem Kreiſe<lb/> niemand, den Du deſſen werth hältſt, ſo will ich<lb/> Dir in meinem nächſten Briefe das Portrait eines<lb/> Mannes zeichnen, der mir zu dieſem Geſchäfte un-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [107/0121]
länger in dem weichen Klima mütterlicher Pflege
und Aufſicht athmen! Wie bald Dein Mann zu-
rückkommen kann, iſt ungewiß. Woldemar iſt
neun Jahre alt. Er iſt ein kräftiger, feuriger
Knabe; aber wenn er länger ausſchließend mit
Dir lebt, wird ſein Herz zu weich, ſeine Phan-
taſie zu weiblich. Selbſt der beſtändige Umgang
mit dem zarten Schweſterchen ſtimmt ihn für ſein
Geſchlecht zu weich.
Suche Dir in dem Kreiſe Deiner Bekanntſchaft
einen würdigen jungen Mann zum Erzieher für
ihn; mache mit dieſem, wenn Du ihn gefunden,
einen gemeinſchaftlichen Erziehungsplan für dieſen
herrlichen Knaben; lege ihn dann ſeinem Vater
vor, und wenn der ihn ſanctionirt hat, dann
mache Dich ſtark, ihn recht treu zu befolgen.
Schenke dem Manne, den Du werth gehalten,
ihm dieſen koſtbaren Schatz zu übergeben, Dein
ganzes Vertrauen. Weißt Du in Deinem Kreiſe
niemand, den Du deſſen werth hältſt, ſo will ich
Dir in meinem nächſten Briefe das Portrait eines
Mannes zeichnen, der mir zu dieſem Geſchäfte un-
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