Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite



Seele genoß er, ungleich jenen kalten Kritikern,
die im Vaterlande nichts mehr schön finden kön-
nen, wenn sie einmal rühmen dürfen, daß sie im
Auslande waren.

Auf Reisen tritt das Jnnere der Menschen über-
haupt unverhüllter hervor: da hab' auch ich sein
eigenthümliches Wesen näher kennen gelernt. Eine
solche Mischung von Kraft und Milde, von Festig-
keit und kindlicher Hingabe, von Stolz und De-
muth, sah' ich noch nicht. Unerbittlich hart ist er
gegen Unwahrheit und feile Kriecherei. Nicht ein-
mal galant ist er gegen Weiber. Er scheint im
Ganzen für unser Geschlecht mehr Mitleid als
Achtung zu haben, und doch ist es ihm wieder Be-
dürfniß, die Bessern unter uns heraus zu heben,
und sie mit Ehrerbietung zu behandeln. Seine
Gestalt ist männlich. Sein dunkles, feuriges Auge
würde zurückscheuchen, wenn nicht so viel heitere
Ruhe daraus spräche. Jch wollte Dir von seinen
Schwächen sagen, und habe sie unvermerkt fast
ganz aus den Augen verloren. Er haßt, zum Bei-
spiel, alle konventionellen Formen des Umgangs



Seele genoß er, ungleich jenen kalten Kritikern,
die im Vaterlande nichts mehr ſchön finden kön-
nen, wenn ſie einmal rühmen dürfen, daß ſie im
Auslande waren.

Auf Reiſen tritt das Jnnere der Menſchen über-
haupt unverhüllter hervor: da hab’ auch ich ſein
eigenthümliches Weſen näher kennen gelernt. Eine
ſolche Miſchung von Kraft und Milde, von Feſtig-
keit und kindlicher Hingabe, von Stolz und De-
muth, ſah’ ich noch nicht. Unerbittlich hart iſt er
gegen Unwahrheit und feile Kriecherei. Nicht ein-
mal galant iſt er gegen Weiber. Er ſcheint im
Ganzen für unſer Geſchlecht mehr Mitleid als
Achtung zu haben, und doch iſt es ihm wieder Be-
dürfniß, die Beſſern unter uns heraus zu heben,
und ſie mit Ehrerbietung zu behandeln. Seine
Geſtalt iſt männlich. Sein dunkles, feuriges Auge
würde zurückſcheuchen, wenn nicht ſo viel heitere
Ruhe daraus ſpräche. Jch wollte Dir von ſeinen
Schwächen ſagen, und habe ſie unvermerkt faſt
ganz aus den Augen verloren. Er haßt, zum Bei-
ſpiel, alle konventionellen Formen des Umgangs

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0126" n="112"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Seele genoß er, ungleich jenen kalten Kritikern,<lb/>
die im Vaterlande nichts mehr &#x017F;chön finden kön-<lb/>
nen, wenn &#x017F;ie einmal rühmen dürfen, daß &#x017F;ie im<lb/>
Auslande waren.</p><lb/>
          <p>Auf Rei&#x017F;en tritt das Jnnere der Men&#x017F;chen über-<lb/>
haupt unverhüllter hervor: da hab&#x2019; auch ich &#x017F;ein<lb/>
eigenthümliches We&#x017F;en näher kennen gelernt. Eine<lb/>
&#x017F;olche Mi&#x017F;chung von Kraft und Milde, von Fe&#x017F;tig-<lb/>
keit und kindlicher Hingabe, von Stolz und De-<lb/>
muth, &#x017F;ah&#x2019; ich noch nicht. Unerbittlich hart i&#x017F;t er<lb/>
gegen Unwahrheit und feile Kriecherei. Nicht ein-<lb/>
mal galant i&#x017F;t er gegen Weiber. Er &#x017F;cheint im<lb/>
Ganzen für un&#x017F;er Ge&#x017F;chlecht mehr Mitleid als<lb/>
Achtung zu haben, und doch i&#x017F;t es ihm wieder Be-<lb/>
dürfniß, die Be&#x017F;&#x017F;ern unter uns heraus zu heben,<lb/>
und &#x017F;ie mit Ehrerbietung zu behandeln. Seine<lb/>
Ge&#x017F;talt i&#x017F;t männlich. Sein dunkles, feuriges Auge<lb/>
würde zurück&#x017F;cheuchen, wenn nicht &#x017F;o viel heitere<lb/>
Ruhe daraus &#x017F;präche. Jch wollte Dir von &#x017F;einen<lb/>
Schwächen &#x017F;agen, und habe &#x017F;ie unvermerkt fa&#x017F;t<lb/>
ganz aus den Augen verloren. Er haßt, zum Bei-<lb/>
&#x017F;piel, alle konventionellen Formen des Umgangs<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[112/0126] Seele genoß er, ungleich jenen kalten Kritikern, die im Vaterlande nichts mehr ſchön finden kön- nen, wenn ſie einmal rühmen dürfen, daß ſie im Auslande waren. Auf Reiſen tritt das Jnnere der Menſchen über- haupt unverhüllter hervor: da hab’ auch ich ſein eigenthümliches Weſen näher kennen gelernt. Eine ſolche Miſchung von Kraft und Milde, von Feſtig- keit und kindlicher Hingabe, von Stolz und De- muth, ſah’ ich noch nicht. Unerbittlich hart iſt er gegen Unwahrheit und feile Kriecherei. Nicht ein- mal galant iſt er gegen Weiber. Er ſcheint im Ganzen für unſer Geſchlecht mehr Mitleid als Achtung zu haben, und doch iſt es ihm wieder Be- dürfniß, die Beſſern unter uns heraus zu heben, und ſie mit Ehrerbietung zu behandeln. Seine Geſtalt iſt männlich. Sein dunkles, feuriges Auge würde zurückſcheuchen, wenn nicht ſo viel heitere Ruhe daraus ſpräche. Jch wollte Dir von ſeinen Schwächen ſagen, und habe ſie unvermerkt faſt ganz aus den Augen verloren. Er haßt, zum Bei- ſpiel, alle konventionellen Formen des Umgangs

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/126
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/126>, abgerufen am 24.11.2024.