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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

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Pfeife das Wirthshaus anzündete, worin sie
waren, und du wärst Richter, was würdest du
mit dem Menschen thun, Woldemar? -- Er besann
sich einen Augenblick, und dann: ich würde ihn
einsperren lassen. Pl. Aber warum ihn strafen? er
wußte ja eben so wenig, was er that, als das Kind;
denn ein völlig trunkener Mensch ist ganz unmün-
dig, weil die Mündigkeit im freien Gebrauch der
Vernunft besteht. Wold. Aber er war Schuld
daran, daß er nicht wußte, was er that. Pl.
Wie so? Wold. Ja, er war kein Kind mehr,
und mußte wissen, was vom vielen Trinken
kommt. Pl. So ist es, Woldemar. Wer sich
selbst seiner Vernunft entäußert, ist nicht frei
von Schuld und Strafe für das, was er in
diesem Wahnsinne verübt; obwohl man ihn nicht
so strafen kann, als wenn er die That mit vollem
Bewußtseyn begangen.

Als wir unter mancherlei Gesprächen eine halbe
Stunde gefahren waren, kam ein lahmer Jnva-
lide mit einem hölzernen Beine an den Wagen:
"Erbarmen Sie sich, und schenken einem Armen



Pfeife das Wirthshaus anzündete, worin ſie
waren, und du wärſt Richter, was würdeſt du
mit dem Menſchen thun, Woldemar? — Er beſann
ſich einen Augenblick, und dann: ich würde ihn
einſperren laſſen. Pl. Aber warum ihn ſtrafen? er
wußte ja eben ſo wenig, was er that, als das Kind;
denn ein völlig trunkener Menſch iſt ganz unmün-
dig, weil die Mündigkeit im freien Gebrauch der
Vernunft beſteht. Wold. Aber er war Schuld
daran, daß er nicht wußte, was er that. Pl.
Wie ſo? Wold. Ja, er war kein Kind mehr,
und mußte wiſſen, was vom vielen Trinken
kommt. Pl. So iſt es, Woldemar. Wer ſich
ſelbſt ſeiner Vernunft entäußert, iſt nicht frei
von Schuld und Strafe für das, was er in
dieſem Wahnſinne verübt; obwohl man ihn nicht
ſo ſtrafen kann, als wenn er die That mit vollem
Bewußtſeyn begangen.

Als wir unter mancherlei Geſprächen eine halbe
Stunde gefahren waren, kam ein lahmer Jnva-
lide mit einem hölzernen Beine an den Wagen:
„Erbarmen Sie ſich, und ſchenken einem Armen

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[136/0150] Pfeife das Wirthshaus anzündete, worin ſie waren, und du wärſt Richter, was würdeſt du mit dem Menſchen thun, Woldemar? — Er beſann ſich einen Augenblick, und dann: ich würde ihn einſperren laſſen. Pl. Aber warum ihn ſtrafen? er wußte ja eben ſo wenig, was er that, als das Kind; denn ein völlig trunkener Menſch iſt ganz unmün- dig, weil die Mündigkeit im freien Gebrauch der Vernunft beſteht. Wold. Aber er war Schuld daran, daß er nicht wußte, was er that. Pl. Wie ſo? Wold. Ja, er war kein Kind mehr, und mußte wiſſen, was vom vielen Trinken kommt. Pl. So iſt es, Woldemar. Wer ſich ſelbſt ſeiner Vernunft entäußert, iſt nicht frei von Schuld und Strafe für das, was er in dieſem Wahnſinne verübt; obwohl man ihn nicht ſo ſtrafen kann, als wenn er die That mit vollem Bewußtſeyn begangen. Als wir unter mancherlei Geſprächen eine halbe Stunde gefahren waren, kam ein lahmer Jnva- lide mit einem hölzernen Beine an den Wagen: „Erbarmen Sie ſich, und ſchenken einem Armen

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/150>, abgerufen am 19.05.2024.