Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

der herauf kamen, sagte aber kein Wort zu ihr,
kein einziges lobendes Wörtchen. Am Abend trat
er leise zu mir und fragte: "Tante, darf ich mor-
gen ganz früh zu dir kommen?" Wann stehst du
auf, lieber Junge? "Darf ich um 6 Uhr kom-
men?" Ja! Mit dem Schlage 6 Uhr klopfte
er leise an die Kammerthüre; und als ich auf-
machte, stand er vor mir mit einem ganzen Korbe
voll Maiblumen, Aurikeln und Tazetten, und Pla-
tov's Diener folgte ihm mit zwei blühenden Rosen-
stöcken, und herrlichen Syringen in Töpfen. --
"Darf ich herein kommen, wo Jda schläft?" Er
schlich ganz leise herbei, bestreute ihre Decke mit
den Blumen, brach eine Rose ab, legte sie ihr in
die Hand, stellte die Töpfe zu ihrem Haupte in
Ordnung, sah sie mit unbeschreiblicher Liebe schla-
fen, und schlich leise zurück. "Tante muß mir
aber auch sagen, wie Jda aufgewacht ist?" Ja,
lieber Junge, das sollst du wissen; geh' nur, daß
sie nicht erschrickt, wenn sie dich so unerwartet
hört und sieht. Er machte sich schnell davon. Das
erste, was an Jda erwachte, war der Sinn des
Geruchs. Fast noch schlafend zog sie prüfend die

(20)

der herauf kamen, ſagte aber kein Wort zu ihr,
kein einziges lobendes Wörtchen. Am Abend trat
er leiſe zu mir und fragte: „Tante, darf ich mor-
gen ganz früh zu dir kommen?‟ Wann ſtehſt du
auf, lieber Junge? „Darf ich um 6 Uhr kom-
men?‟ Ja! Mit dem Schlage 6 Uhr klopfte
er leiſe an die Kammerthüre; und als ich auf-
machte, ſtand er vor mir mit einem ganzen Korbe
voll Maiblumen, Aurikeln und Tazetten, und Pla-
tov’s Diener folgte ihm mit zwei blühenden Roſen-
ſtöcken, und herrlichen Syringen in Töpfen. —
„Darf ich herein kommen, wo Jda ſchläft?‟ Er
ſchlich ganz leiſe herbei, beſtreute ihre Decke mit
den Blumen, brach eine Roſe ab, legte ſie ihr in
die Hand, ſtellte die Töpfe zu ihrem Haupte in
Ordnung, ſah ſie mit unbeſchreiblicher Liebe ſchla-
fen, und ſchlich leiſe zurück. „Tante muß mir
aber auch ſagen, wie Jda aufgewacht iſt?‟ Ja,
lieber Junge, das ſollſt du wiſſen; geh’ nur, daß
ſie nicht erſchrickt, wenn ſie dich ſo unerwartet
hört und ſieht. Er machte ſich ſchnell davon. Das
erſte, was an Jda erwachte, war der Sinn des
Geruchs. Faſt noch ſchlafend zog ſie prüfend die

(20)
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0167" n="153"/>
der herauf kamen, &#x017F;agte aber kein Wort zu ihr,<lb/>
kein einziges lobendes Wörtchen. Am Abend trat<lb/>
er lei&#x017F;e zu mir und fragte: &#x201E;Tante, darf ich mor-<lb/>
gen ganz früh zu dir kommen?&#x201F; Wann &#x017F;teh&#x017F;t du<lb/>
auf, lieber Junge? &#x201E;Darf ich um 6 Uhr kom-<lb/>
men?&#x201F; Ja! Mit dem Schlage 6 Uhr klopfte<lb/>
er lei&#x017F;e an die Kammerthüre; und als ich auf-<lb/>
machte, &#x017F;tand er vor mir mit einem ganzen Korbe<lb/>
voll Maiblumen, Aurikeln und Tazetten, und Pla-<lb/>
tov&#x2019;s Diener folgte ihm mit zwei blühenden Ro&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;töcken, und herrlichen Syringen in Töpfen. &#x2014;<lb/>
&#x201E;Darf ich herein kommen, wo Jda &#x017F;chläft?&#x201F; Er<lb/>
&#x017F;chlich ganz lei&#x017F;e herbei, be&#x017F;treute ihre Decke mit<lb/>
den Blumen, brach eine Ro&#x017F;e ab, legte &#x017F;ie ihr in<lb/>
die Hand, &#x017F;tellte die Töpfe zu ihrem Haupte in<lb/>
Ordnung, &#x017F;ah &#x017F;ie mit unbe&#x017F;chreiblicher Liebe &#x017F;chla-<lb/>
fen, und &#x017F;chlich lei&#x017F;e zurück. &#x201E;Tante muß mir<lb/>
aber auch &#x017F;agen, wie Jda aufgewacht i&#x017F;t?&#x201F; Ja,<lb/>
lieber Junge, das &#x017F;oll&#x017F;t du wi&#x017F;&#x017F;en; geh&#x2019; nur, daß<lb/>
&#x017F;ie nicht er&#x017F;chrickt, wenn &#x017F;ie dich &#x017F;o unerwartet<lb/>
hört und &#x017F;ieht. Er machte &#x017F;ich &#x017F;chnell davon. Das<lb/>
er&#x017F;te, was an Jda erwachte, war der Sinn des<lb/>
Geruchs. Fa&#x017F;t noch &#x017F;chlafend zog &#x017F;ie prüfend die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">(20)</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[153/0167] der herauf kamen, ſagte aber kein Wort zu ihr, kein einziges lobendes Wörtchen. Am Abend trat er leiſe zu mir und fragte: „Tante, darf ich mor- gen ganz früh zu dir kommen?‟ Wann ſtehſt du auf, lieber Junge? „Darf ich um 6 Uhr kom- men?‟ Ja! Mit dem Schlage 6 Uhr klopfte er leiſe an die Kammerthüre; und als ich auf- machte, ſtand er vor mir mit einem ganzen Korbe voll Maiblumen, Aurikeln und Tazetten, und Pla- tov’s Diener folgte ihm mit zwei blühenden Roſen- ſtöcken, und herrlichen Syringen in Töpfen. — „Darf ich herein kommen, wo Jda ſchläft?‟ Er ſchlich ganz leiſe herbei, beſtreute ihre Decke mit den Blumen, brach eine Roſe ab, legte ſie ihr in die Hand, ſtellte die Töpfe zu ihrem Haupte in Ordnung, ſah ſie mit unbeſchreiblicher Liebe ſchla- fen, und ſchlich leiſe zurück. „Tante muß mir aber auch ſagen, wie Jda aufgewacht iſt?‟ Ja, lieber Junge, das ſollſt du wiſſen; geh’ nur, daß ſie nicht erſchrickt, wenn ſie dich ſo unerwartet hört und ſieht. Er machte ſich ſchnell davon. Das erſte, was an Jda erwachte, war der Sinn des Geruchs. Faſt noch ſchlafend zog ſie prüfend die (20)

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/167
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/167>, abgerufen am 24.11.2024.