Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

zu berühren. Zu oft schon hatte ich die Strafe
solches Vorwitzes getragen. Das weibliche Jdeal
war mir immer entschwunden, so oft ich mich ihm
bis auf diesen Punkt nahen wollte. Jch sah Jhre
Kinder unschuldig froh, sah sie empfänglich für
alles Schöne, lernbegierig und ernst, wo es darauf
ankam; aber ob Sie, Theure! ihnen das Heiligste
verschwiegen bis zur vollen Reife der Vernunft,
wo, leider! die Leidenschaften auch schon reif sind,
und das Herz, unter ihren Stürmen kämpfend,
nicht mehr fähig ist zur Aufnahme dieses Heilig-
sten -- vor dieser Frage stand ich bald fürchtend,
bald hoffend still. -- Als ich Jda's Abendgebet im
Garten hörte, da erkannte ich meine Freundin in
diesem Gebete. Jch wußte, daß es dem Kinde
nicht dictirt seyn konnte; aber ich sah Jhren Geist,
theure Selma! darin erscheinen, und daher der
Eindruck, den es auf mich machte.

Jch. Gewiß kam es ganz aus dem Herzen des
Kindes. Aber Sie würden sehr irren, wenn Sie
mir ein positives Verdienst dabei zuschrieben. Erst-
lich hatte schon die Mutter die ersten Regungen

zu berühren. Zu oft ſchon hatte ich die Strafe
ſolches Vorwitzes getragen. Das weibliche Jdeal
war mir immer entſchwunden, ſo oft ich mich ihm
bis auf dieſen Punkt nahen wollte. Jch ſah Jhre
Kinder unſchuldig froh, ſah ſie empfänglich für
alles Schöne, lernbegierig und ernſt, wo es darauf
ankam; aber ob Sie, Theure! ihnen das Heiligſte
verſchwiegen bis zur vollen Reife der Vernunft,
wo, leider! die Leidenſchaften auch ſchon reif ſind,
und das Herz, unter ihren Stürmen kämpfend,
nicht mehr fähig iſt zur Aufnahme dieſes Heilig-
ſten — vor dieſer Frage ſtand ich bald fürchtend,
bald hoffend ſtill. — Als ich Jda’s Abendgebet im
Garten hörte, da erkannte ich meine Freundin in
dieſem Gebete. Jch wußte, daß es dem Kinde
nicht dictirt ſeyn konnte; aber ich ſah Jhren Geiſt,
theure Selma! darin erſcheinen, und daher der
Eindruck, den es auf mich machte.

Jch. Gewiß kam es ganz aus dem Herzen des
Kindes. Aber Sie würden ſehr irren, wenn Sie
mir ein poſitives Verdienſt dabei zuſchrieben. Erſt-
lich hatte ſchon die Mutter die erſten Regungen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0205" n="191"/>
zu berühren. Zu oft &#x017F;chon hatte ich die Strafe<lb/>
&#x017F;olches Vorwitzes getragen. Das weibliche Jdeal<lb/>
war mir immer ent&#x017F;chwunden, &#x017F;o oft ich mich ihm<lb/>
bis auf die&#x017F;en Punkt nahen wollte. Jch &#x017F;ah Jhre<lb/>
Kinder un&#x017F;chuldig froh, &#x017F;ah &#x017F;ie empfänglich für<lb/>
alles Schöne, lernbegierig und ern&#x017F;t, wo es darauf<lb/>
ankam; aber ob Sie, Theure! ihnen das Heilig&#x017F;te<lb/>
ver&#x017F;chwiegen bis zur vollen Reife der Vernunft,<lb/>
wo, leider! die Leiden&#x017F;chaften auch &#x017F;chon reif &#x017F;ind,<lb/>
und das Herz, unter ihren Stürmen kämpfend,<lb/>
nicht mehr fähig i&#x017F;t zur Aufnahme die&#x017F;es Heilig-<lb/>
&#x017F;ten &#x2014; vor die&#x017F;er Frage &#x017F;tand ich bald fürchtend,<lb/>
bald hoffend &#x017F;till. &#x2014; Als ich Jda&#x2019;s Abendgebet im<lb/>
Garten hörte, da erkannte ich meine Freundin in<lb/>
die&#x017F;em Gebete. Jch wußte, daß es dem Kinde<lb/>
nicht dictirt &#x017F;eyn konnte; aber ich &#x017F;ah Jhren Gei&#x017F;t,<lb/>
theure Selma! darin er&#x017F;cheinen, und daher der<lb/>
Eindruck, den es auf mich machte.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Jch</hi>. Gewiß kam es ganz aus dem Herzen des<lb/>
Kindes. Aber Sie würden &#x017F;ehr irren, wenn Sie<lb/>
mir ein po&#x017F;itives Verdien&#x017F;t dabei zu&#x017F;chrieben. Er&#x017F;t-<lb/>
lich hatte &#x017F;chon die Mutter die er&#x017F;ten Regungen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[191/0205] zu berühren. Zu oft ſchon hatte ich die Strafe ſolches Vorwitzes getragen. Das weibliche Jdeal war mir immer entſchwunden, ſo oft ich mich ihm bis auf dieſen Punkt nahen wollte. Jch ſah Jhre Kinder unſchuldig froh, ſah ſie empfänglich für alles Schöne, lernbegierig und ernſt, wo es darauf ankam; aber ob Sie, Theure! ihnen das Heiligſte verſchwiegen bis zur vollen Reife der Vernunft, wo, leider! die Leidenſchaften auch ſchon reif ſind, und das Herz, unter ihren Stürmen kämpfend, nicht mehr fähig iſt zur Aufnahme dieſes Heilig- ſten — vor dieſer Frage ſtand ich bald fürchtend, bald hoffend ſtill. — Als ich Jda’s Abendgebet im Garten hörte, da erkannte ich meine Freundin in dieſem Gebete. Jch wußte, daß es dem Kinde nicht dictirt ſeyn konnte; aber ich ſah Jhren Geiſt, theure Selma! darin erſcheinen, und daher der Eindruck, den es auf mich machte. Jch. Gewiß kam es ganz aus dem Herzen des Kindes. Aber Sie würden ſehr irren, wenn Sie mir ein poſitives Verdienſt dabei zuſchrieben. Erſt- lich hatte ſchon die Mutter die erſten Regungen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/205
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/205>, abgerufen am 21.11.2024.