Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

der Frömmigkeit in des Kindes Seele geweckt, und
zwar früher, als ich es vielleicht gethan haben
würde. Es brauchte nur erwärmend angehaucht
zu werden, was schon da war. Aber ich hätte
sicher auch in dem Falle, daß mir nicht vorgearbei-
tet worden wäre, den schönsten Moment zu tref-
fen gesucht, um sie zu wecken, und hätte die Kin-
der dann, wie jetzt, Zeuge meiner Freudigkeit zu
Gott seyn lassen. Für Mathilde ist dieser schöne
Zeitpunkt noch nicht gekommen, obwohl sie ein
Jahr älter ist, als Jda. Aber bei ihr sind die un-
edlen Leidenschaften früh empor gekommen; sie ist
in der früheren Behandlung sehr verwahrlos't.
Bei ihr würde die Religion als eine ausländische
Pflanze auf unbereitetem Boden nicht wohl haben
gedeihen können; auch wird sie sich in ihrer star-
ken, nicht sehr weiblichen Seele anders, ganz an-
ders gestalten, als in Jda.

Pfarrer. Aber, Freundin! --

Jch. O! ich verstehe Sie: es soll nicht zu spät
werden. Nur muß die rechte Stunde gekommen
seyn. Oft waren wir schon nahe daran, aber die

der Frömmigkeit in des Kindes Seele geweckt, und
zwar früher, als ich es vielleicht gethan haben
würde. Es brauchte nur erwärmend angehaucht
zu werden, was ſchon da war. Aber ich hätte
ſicher auch in dem Falle, daß mir nicht vorgearbei-
tet worden wäre, den ſchönſten Moment zu tref-
fen geſucht, um ſie zu wecken, und hätte die Kin-
der dann, wie jetzt, Zeuge meiner Freudigkeit zu
Gott ſeyn laſſen. Für Mathilde iſt dieſer ſchöne
Zeitpunkt noch nicht gekommen, obwohl ſie ein
Jahr älter iſt, als Jda. Aber bei ihr ſind die un-
edlen Leidenſchaften früh empor gekommen; ſie iſt
in der früheren Behandlung ſehr verwahrloſ’t.
Bei ihr würde die Religion als eine ausländiſche
Pflanze auf unbereitetem Boden nicht wohl haben
gedeihen können; auch wird ſie ſich in ihrer ſtar-
ken, nicht ſehr weiblichen Seele anders, ganz an-
ders geſtalten, als in Jda.

Pfarrer. Aber, Freundin! —

Jch. O! ich verſtehe Sie: es ſoll nicht zu ſpät
werden. Nur muß die rechte Stunde gekommen
ſeyn. Oft waren wir ſchon nahe daran, aber die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0206" n="192"/>
der Frömmigkeit in des Kindes Seele geweckt, und<lb/>
zwar früher, als ich es vielleicht gethan haben<lb/>
würde. Es brauchte nur erwärmend angehaucht<lb/>
zu werden, was &#x017F;chon da war. Aber ich hätte<lb/>
&#x017F;icher auch in dem Falle, daß mir nicht vorgearbei-<lb/>
tet worden wäre, den &#x017F;chön&#x017F;ten Moment zu tref-<lb/>
fen ge&#x017F;ucht, um &#x017F;ie zu wecken, und hätte die Kin-<lb/>
der dann, wie jetzt, Zeuge meiner Freudigkeit zu<lb/>
Gott &#x017F;eyn la&#x017F;&#x017F;en. Für Mathilde i&#x017F;t die&#x017F;er &#x017F;chöne<lb/>
Zeitpunkt noch nicht gekommen, obwohl &#x017F;ie ein<lb/>
Jahr älter i&#x017F;t, als Jda. Aber bei ihr &#x017F;ind die un-<lb/>
edlen Leiden&#x017F;chaften früh empor gekommen; &#x017F;ie i&#x017F;t<lb/>
in der früheren Behandlung &#x017F;ehr verwahrlo&#x017F;&#x2019;t.<lb/>
Bei ihr würde die Religion als eine ausländi&#x017F;che<lb/>
Pflanze auf unbereitetem Boden nicht wohl haben<lb/>
gedeihen können; auch wird &#x017F;ie &#x017F;ich in ihrer &#x017F;tar-<lb/>
ken, nicht &#x017F;ehr weiblichen Seele anders, ganz an-<lb/>
ders ge&#x017F;talten, als in Jda.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Pfarrer</hi>. Aber, Freundin! &#x2014;</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Jch</hi>. O! ich ver&#x017F;tehe Sie: es &#x017F;oll nicht zu &#x017F;pät<lb/>
werden. Nur muß die rechte Stunde gekommen<lb/>
&#x017F;eyn. Oft waren wir &#x017F;chon nahe daran, aber die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[192/0206] der Frömmigkeit in des Kindes Seele geweckt, und zwar früher, als ich es vielleicht gethan haben würde. Es brauchte nur erwärmend angehaucht zu werden, was ſchon da war. Aber ich hätte ſicher auch in dem Falle, daß mir nicht vorgearbei- tet worden wäre, den ſchönſten Moment zu tref- fen geſucht, um ſie zu wecken, und hätte die Kin- der dann, wie jetzt, Zeuge meiner Freudigkeit zu Gott ſeyn laſſen. Für Mathilde iſt dieſer ſchöne Zeitpunkt noch nicht gekommen, obwohl ſie ein Jahr älter iſt, als Jda. Aber bei ihr ſind die un- edlen Leidenſchaften früh empor gekommen; ſie iſt in der früheren Behandlung ſehr verwahrloſ’t. Bei ihr würde die Religion als eine ausländiſche Pflanze auf unbereitetem Boden nicht wohl haben gedeihen können; auch wird ſie ſich in ihrer ſtar- ken, nicht ſehr weiblichen Seele anders, ganz an- ders geſtalten, als in Jda. Pfarrer. Aber, Freundin! — Jch. O! ich verſtehe Sie: es ſoll nicht zu ſpät werden. Nur muß die rechte Stunde gekommen ſeyn. Oft waren wir ſchon nahe daran, aber die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/206
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/206>, abgerufen am 21.11.2024.