schneidend, die Sonne verbirgt sich und scheint erloschen, und die Erde trauert. Wie weißt du denn, ob der Frühling wirklich wieder kommen werde?" -- "O er hat uns noch nie vergessen. Er ist ja nach jedem Winter immer wieder gekehrt." --
Jch. Und der einmal am ersten Frühling ge- sprochen hat: die Erde lasse aufgehen, Gras und Kräuter und Blumen die Fülle, der spricht es je- den neuen Frühling wieder. Und der einmal sa- gen konnte: Es werde der Mensch -- ohne daß wir begreifen wie der Mensch ward, der kann auch zum zweitenmal schaffend sagen: Kommet wie- der, Menschenkinder! Und der dem seligen Geiste unserer Freundin diese schöne Hülle gebildet, die er jetzt verlassen, weil sie ihm unbrauchbar ward, der kann ihm auch eine neue bilden. Das wann und wo und wie wollen wir ihm kindlich glau- bend überlassen. Wir umarmten uns schweigend, und waren bald am Hause.
Bei der Beerdigung, die nach der Landessitte des Morgens früh geschah, wollte die ganze Ort- schaft der Mutter folgen, -- unter diesem Na-
ſchneidend, die Sonne verbirgt ſich und ſcheint erloſchen, und die Erde trauert. Wie weißt du denn, ob der Frühling wirklich wieder kommen werde?‟ — „O er hat uns noch nie vergeſſen. Er iſt ja nach jedem Winter immer wieder gekehrt.‟ —
Jch. Und der einmal am erſten Frühling ge- ſprochen hat: die Erde laſſe aufgehen, Gras und Kräuter und Blumen die Fülle, der ſpricht es je- den neuen Frühling wieder. Und der einmal ſa- gen konnte: Es werde der Menſch — ohne daß wir begreifen wie der Menſch ward, der kann auch zum zweitenmal ſchaffend ſagen: Kommet wie- der, Menſchenkinder! Und der dem ſeligen Geiſte unſerer Freundin dieſe ſchöne Hülle gebildet, die er jetzt verlaſſen, weil ſie ihm unbrauchbar ward, der kann ihm auch eine neue bilden. Das wann und wo und wie wollen wir ihm kindlich glau- bend überlaſſen. Wir umarmten uns ſchweigend, und waren bald am Hauſe.
Bei der Beerdigung, die nach der Landesſitte des Morgens früh geſchah, wollte die ganze Ort- ſchaft der Mutter folgen, — unter dieſem Na-
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ſchneidend, die Sonne verbirgt ſich und ſcheint
erloſchen, und die Erde trauert. Wie weißt du
denn, ob der Frühling wirklich wieder kommen
werde?‟ — „O er hat uns noch nie vergeſſen. Er
iſt ja nach jedem Winter immer wieder gekehrt.‟ —
Jch. Und der einmal am erſten Frühling ge-
ſprochen hat: die Erde laſſe aufgehen, Gras und
Kräuter und Blumen die Fülle, der ſpricht es je-
den neuen Frühling wieder. Und der einmal ſa-
gen konnte: Es werde der Menſch — ohne daß
wir begreifen wie der Menſch ward, der kann
auch zum zweitenmal ſchaffend ſagen: Kommet wie-
der, Menſchenkinder! Und der dem ſeligen Geiſte
unſerer Freundin dieſe ſchöne Hülle gebildet, die
er jetzt verlaſſen, weil ſie ihm unbrauchbar ward,
der kann ihm auch eine neue bilden. Das wann
und wo und wie wollen wir ihm kindlich glau-
bend überlaſſen. Wir umarmten uns ſchweigend,
und waren bald am Hauſe.
Bei der Beerdigung, die nach der Landesſitte
des Morgens früh geſchah, wollte die ganze Ort-
ſchaft der Mutter folgen, — unter dieſem Na-
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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/119>, abgerufen am 24.11.2024.
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