Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

Unser Pfarrer fürchtet, die Freude werde mich
auflösen -- möchte sie es! Könnte man seliger ster-
ben und menschlicher, als vor Freude? Und sind
nicht diese Tage dem Menschen zum Vollgenuß
seines Daseyns gegeben, zum Vorgefühl dessen,
was irgendwo seyn muß und irgend einmal heran-
nahen wird -- des unbekannten, von jeder Men-
schenbrust geahnten Ziels der Sehnsucht! --
Wenn Du bey diesem Briefe lächelst, indem Du
ihn vielleicht an einem grauen naßkalten Regen-
tage liesest, wenn Du leise oder gar laut im einsa-
men Kabinett sagst: wie die liebe Tante schwärmt!
so hast Du Recht -- aber auch die schwärmende
Tante hat Recht. Wenn Du aber fürchten solltest,
daß die Kinder sich dabei aus Nachahmungstrieb
bestreben sollten, mehr zu empfinden, als sie wirk-
lich empfinden, dann hättest Du Unrecht; doch Du
weißt es auch schon, daß meine Gefühle sich vor
Kindern sehr mäßig in Worten ergießen, und was
unwillkürlich ausbricht, das kann nicht zur Will-
kür in der Nachahmung verleiten. Fürchte
nichts, meine Gute. Die Kinder sehen mich
bloß glücklich, und dieß hebt das kindliche Gemüth

Unſer Pfarrer fürchtet, die Freude werde mich
auflöſen — möchte ſie es! Könnte man ſeliger ſter-
ben und menſchlicher, als vor Freude? Und ſind
nicht dieſe Tage dem Menſchen zum Vollgenuß
ſeines Daſeyns gegeben, zum Vorgefühl deſſen,
was irgendwo ſeyn muß und irgend einmal heran-
nahen wird — des unbekannten, von jeder Men-
ſchenbruſt geahnten Ziels der Sehnſucht! —
Wenn Du bey dieſem Briefe lächelſt, indem Du
ihn vielleicht an einem grauen naßkalten Regen-
tage lieſeſt, wenn Du leiſe oder gar laut im einſa-
men Kabinett ſagſt: wie die liebe Tante ſchwärmt!
ſo haſt Du Recht — aber auch die ſchwärmende
Tante hat Recht. Wenn Du aber fürchten ſollteſt,
daß die Kinder ſich dabei aus Nachahmungstrieb
beſtreben ſollten, mehr zu empfinden, als ſie wirk-
lich empfinden, dann hätteſt Du Unrecht; doch Du
weißt es auch ſchon, daß meine Gefühle ſich vor
Kindern ſehr mäßig in Worten ergießen, und was
unwillkürlich ausbricht, das kann nicht zur Will-
kür in der Nachahmung verleiten. Fürchte
nichts, meine Gute. Die Kinder ſehen mich
bloß glücklich, und dieß hebt das kindliche Gemüth

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0013" n="5"/>
Un&#x017F;er Pfarrer fürchtet, die Freude werde mich<lb/>
auflö&#x017F;en &#x2014; möchte &#x017F;ie es! Könnte man &#x017F;eliger &#x017F;ter-<lb/>
ben und men&#x017F;chlicher, als vor Freude? Und &#x017F;ind<lb/>
nicht die&#x017F;e Tage dem Men&#x017F;chen zum Vollgenuß<lb/>
&#x017F;eines Da&#x017F;eyns gegeben, zum Vorgefühl de&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
was irgendwo &#x017F;eyn muß und irgend einmal heran-<lb/>
nahen wird &#x2014; des unbekannten, von jeder Men-<lb/>
&#x017F;chenbru&#x017F;t geahnten Ziels der Sehn&#x017F;ucht! &#x2014;<lb/>
Wenn Du bey die&#x017F;em Briefe lächel&#x017F;t, indem Du<lb/>
ihn vielleicht an einem grauen naßkalten Regen-<lb/>
tage lie&#x017F;e&#x017F;t, wenn Du lei&#x017F;e oder gar laut im ein&#x017F;a-<lb/>
men Kabinett &#x017F;ag&#x017F;t: wie die liebe Tante &#x017F;chwärmt!<lb/>
&#x017F;o ha&#x017F;t Du Recht &#x2014; aber auch die &#x017F;chwärmende<lb/>
Tante hat Recht. Wenn Du aber fürchten &#x017F;ollte&#x017F;t,<lb/>
daß die Kinder &#x017F;ich dabei aus Nachahmungstrieb<lb/>
be&#x017F;treben &#x017F;ollten, mehr zu empfinden, als &#x017F;ie wirk-<lb/>
lich empfinden, dann hätte&#x017F;t Du Unrecht; doch Du<lb/>
weißt es auch &#x017F;chon, daß meine Gefühle &#x017F;ich vor<lb/>
Kindern &#x017F;ehr mäßig in Worten ergießen, und was<lb/>
unwillkürlich ausbricht, das kann nicht zur Will-<lb/>
kür in der Nachahmung verleiten. Fürchte<lb/>
nichts, meine Gute. Die Kinder &#x017F;ehen mich<lb/>
bloß glücklich, und dieß hebt das kindliche Gemüth<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[5/0013] Unſer Pfarrer fürchtet, die Freude werde mich auflöſen — möchte ſie es! Könnte man ſeliger ſter- ben und menſchlicher, als vor Freude? Und ſind nicht dieſe Tage dem Menſchen zum Vollgenuß ſeines Daſeyns gegeben, zum Vorgefühl deſſen, was irgendwo ſeyn muß und irgend einmal heran- nahen wird — des unbekannten, von jeder Men- ſchenbruſt geahnten Ziels der Sehnſucht! — Wenn Du bey dieſem Briefe lächelſt, indem Du ihn vielleicht an einem grauen naßkalten Regen- tage lieſeſt, wenn Du leiſe oder gar laut im einſa- men Kabinett ſagſt: wie die liebe Tante ſchwärmt! ſo haſt Du Recht — aber auch die ſchwärmende Tante hat Recht. Wenn Du aber fürchten ſollteſt, daß die Kinder ſich dabei aus Nachahmungstrieb beſtreben ſollten, mehr zu empfinden, als ſie wirk- lich empfinden, dann hätteſt Du Unrecht; doch Du weißt es auch ſchon, daß meine Gefühle ſich vor Kindern ſehr mäßig in Worten ergießen, und was unwillkürlich ausbricht, das kann nicht zur Will- kür in der Nachahmung verleiten. Fürchte nichts, meine Gute. Die Kinder ſehen mich bloß glücklich, und dieß hebt das kindliche Gemüth

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/13
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/13>, abgerufen am 21.11.2024.