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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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Sieben und sechszigster Brief.

Wie spät oft gewisse Eigenheiten bei jungen
Mädchen zum Vorscheine kommen! Hertha ist nun
schon eine beträchtliche Zeit bei uns, und ich wuß-
te noch nicht, daß sie an der Gespensterfurcht leide.
Von ihrer entsetzlichen Gewitterfurcht hatten wir
frühe Proben; denn sie konnte sich nicht verstecken;
aber jene andere hatte sich lange verborgen gehal-
ten, bis sie bei einer besondern Veranlassung plötz-
lich hervorbrach. Es hatte nemlich eine Schwester
der Lisel, die einige Stunden entfernt wohnt, sie
besucht, und ihr erzählt, wie in ihrem Orte, ei-
ner, der sich im Wahnsinne selbst gehenkt, die
Nacht das ganze Dorf beunruhiget, so daß der
Prediger auf seine schnelle Herabnahme und Be-
erdigung gedrungen, und den armen spuckenden
T -- endlich zur Ruhe zu sprechen versucht habe,
daß man aber wisse, er irre seitdem anderswo um-
her, und daß man an vielen Orten Nachts ein Lärmen
höre, wovon man keinen Grund ersinnen könne.
Auch hänge sich den Reisenden, die dort vorüber-
fahren, oft etwas wie Blei an den Wagen, oder



Sieben und ſechszigſter Brief.

Wie ſpät oft gewiſſe Eigenheiten bei jungen
Mädchen zum Vorſcheine kommen! Hertha iſt nun
ſchon eine beträchtliche Zeit bei uns, und ich wuß-
te noch nicht, daß ſie an der Geſpenſterfurcht leide.
Von ihrer entſetzlichen Gewitterfurcht hatten wir
frühe Proben; denn ſie konnte ſich nicht verſtecken;
aber jene andere hatte ſich lange verborgen gehal-
ten, bis ſie bei einer beſondern Veranlaſſung plötz-
lich hervorbrach. Es hatte nemlich eine Schweſter
der Liſel, die einige Stunden entfernt wohnt, ſie
beſucht, und ihr erzählt, wie in ihrem Orte, ei-
ner, der ſich im Wahnſinne ſelbſt gehenkt, die
Nacht das ganze Dorf beunruhiget, ſo daß der
Prediger auf ſeine ſchnelle Herabnahme und Be-
erdigung gedrungen, und den armen ſpuckenden
T — endlich zur Ruhe zu ſprechen verſucht habe,
daß man aber wiſſe, er irre ſeitdem anderswo um-
her, und daß man an vielen Orten Nachts ein Lärmen
höre, wovon man keinen Grund erſinnen könne.
Auch hänge ſich den Reiſenden, die dort vorüber-
fahren, oft etwas wie Blei an den Wagen, oder

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[215/0223] Sieben und ſechszigſter Brief. Wie ſpät oft gewiſſe Eigenheiten bei jungen Mädchen zum Vorſcheine kommen! Hertha iſt nun ſchon eine beträchtliche Zeit bei uns, und ich wuß- te noch nicht, daß ſie an der Geſpenſterfurcht leide. Von ihrer entſetzlichen Gewitterfurcht hatten wir frühe Proben; denn ſie konnte ſich nicht verſtecken; aber jene andere hatte ſich lange verborgen gehal- ten, bis ſie bei einer beſondern Veranlaſſung plötz- lich hervorbrach. Es hatte nemlich eine Schweſter der Liſel, die einige Stunden entfernt wohnt, ſie beſucht, und ihr erzählt, wie in ihrem Orte, ei- ner, der ſich im Wahnſinne ſelbſt gehenkt, die Nacht das ganze Dorf beunruhiget, ſo daß der Prediger auf ſeine ſchnelle Herabnahme und Be- erdigung gedrungen, und den armen ſpuckenden T — endlich zur Ruhe zu ſprechen verſucht habe, daß man aber wiſſe, er irre ſeitdem anderswo um- her, und daß man an vielen Orten Nachts ein Lärmen höre, wovon man keinen Grund erſinnen könne. Auch hänge ſich den Reiſenden, die dort vorüber- fahren, oft etwas wie Blei an den Wagen, oder

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/223>, abgerufen am 21.11.2024.