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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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und Mathilde, sind wie in einem Freudenrausch.
Auch sind uns Jahreszeit und Witterung ausneh-
mend günstig. Wie die Mädchen von der Natur-
herrlichkeit ergriffen sind! -- Jda sehe ich nicht
selten am späten Abend oder sehr früh Morgens
mit ihrer Schreibtafel einsam wandeln. Und
dann tritt Woldemar und Cläre, so wie Ma-
thilde freundlich zurück. Keins fragt sie, was sie
da mache? keins klagt, daß sie sich absondere;
auch vergütet sie solche Entfernungen durch eine
desto schönere Geselligkeit, wenn sie sich wieder
unter sie mischt. Während sie so allein wandelt,
und Platov sich an den größeren Haufen anschließt,
hält sich Woldemar nicht selten zu mir. Und da
gibt es manches trauliche Gespräch, ja sein Ver-
trauen wird oft so innig, daß es mir ist, als ob
unser Verhältniß das des Sohnes zur Mutter sey,
und ich völlig Deine Stelle bei ihm vertrete. --
"Hast Du, beste Tante, von meinen Eltern noch
nie erfahren, welche Plane sie etwa mit mir ha-
ben? Platov weiß das entweder nicht, oder hat
Ursachen, die ich halb errathe, warum er ihrer
Gesinnung über einen gewissen Punkt gar nicht



und Mathilde, ſind wie in einem Freudenrauſch.
Auch ſind uns Jahreszeit und Witterung ausneh-
mend günſtig. Wie die Mädchen von der Natur-
herrlichkeit ergriffen ſind! — Jda ſehe ich nicht
ſelten am ſpäten Abend oder ſehr früh Morgens
mit ihrer Schreibtafel einſam wandeln. Und
dann tritt Woldemar und Cläre, ſo wie Ma-
thilde freundlich zurück. Keins fragt ſie, was ſie
da mache? keins klagt, daß ſie ſich abſondere;
auch vergütet ſie ſolche Entfernungen durch eine
deſto ſchönere Geſelligkeit, wenn ſie ſich wieder
unter ſie miſcht. Während ſie ſo allein wandelt,
und Platov ſich an den größeren Haufen anſchließt,
hält ſich Woldemar nicht ſelten zu mir. Und da
gibt es manches trauliche Geſpräch, ja ſein Ver-
trauen wird oft ſo innig, daß es mir iſt, als ob
unſer Verhältniß das des Sohnes zur Mutter ſey,
und ich völlig Deine Stelle bei ihm vertrete. —
„Haſt Du, beſte Tante, von meinen Eltern noch
nie erfahren, welche Plane ſie etwa mit mir ha-
ben? Platov weiß das entweder nicht, oder hat
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Geſinnung über einen gewiſſen Punkt gar nicht

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[291/0299] und Mathilde, ſind wie in einem Freudenrauſch. Auch ſind uns Jahreszeit und Witterung ausneh- mend günſtig. Wie die Mädchen von der Natur- herrlichkeit ergriffen ſind! — Jda ſehe ich nicht ſelten am ſpäten Abend oder ſehr früh Morgens mit ihrer Schreibtafel einſam wandeln. Und dann tritt Woldemar und Cläre, ſo wie Ma- thilde freundlich zurück. Keins fragt ſie, was ſie da mache? keins klagt, daß ſie ſich abſondere; auch vergütet ſie ſolche Entfernungen durch eine deſto ſchönere Geſelligkeit, wenn ſie ſich wieder unter ſie miſcht. Während ſie ſo allein wandelt, und Platov ſich an den größeren Haufen anſchließt, hält ſich Woldemar nicht ſelten zu mir. Und da gibt es manches trauliche Geſpräch, ja ſein Ver- trauen wird oft ſo innig, daß es mir iſt, als ob unſer Verhältniß das des Sohnes zur Mutter ſey, und ich völlig Deine Stelle bei ihm vertrete. — „Haſt Du, beſte Tante, von meinen Eltern noch nie erfahren, welche Plane ſie etwa mit mir ha- ben? Platov weiß das entweder nicht, oder hat Urſachen, die ich halb errathe, warum er ihrer Geſinnung über einen gewiſſen Punkt gar nicht

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/299>, abgerufen am 21.11.2024.