Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite



denn beides wiegt einander auf. Das Kind wie
das Thier haben keine vorhersehende Weisheit noch
berechnenden Verstand und wenig Erinnerung.
Jhr Genuß wie ihr Schmerz ist Sache des Augen-
blicks, und mit dem Augenblicke dahin. Das Kind
durch frühzeitiges Räsonniren mit ihm gewaltsam
aus diesem Stand der unmündigen Unschuld reißen,
es früh dem dreifachen Genuß des Angenehmen,
wie dem dreifachen Gefühl des Elends zuführen
wollen, wenn das was es zum Menschen macht,
in ihm kaum zu keimen begonnen -- heißt die
Grenzsteine der Natur verrücken. Was den Be-
trug betrifft, so möcht' ich es eben so wenig Be-
trug genannt wissen, wenn man ein Kind über
eine unvermeidliche Trennung schlafend hinweg-
bringt, als ich es Betrug nenne, wenn man ihm
überzuckerten Wurmsamen unter dem Namen von
Zuckerkörnern gibt. Den Wurmsamen soll es ein-
mal nehmen, den Zucker ißt es gern und wer mag
es betrogen heißen, wenn es den braunen Zitwer
der ihm wohlthut, nicht wahrnimmt, im Zucker
der ihm wohlschmeckt. Sobald ein Kind begreifen
kann, daß es, und warum es Arzeneien nehmen



denn beides wiegt einander auf. Das Kind wie
das Thier haben keine vorherſehende Weisheit noch
berechnenden Verſtand und wenig Erinnerung.
Jhr Genuß wie ihr Schmerz iſt Sache des Augen-
blicks, und mit dem Augenblicke dahin. Das Kind
durch frühzeitiges Räſonniren mit ihm gewaltſam
aus dieſem Stand der unmündigen Unſchuld reißen,
es früh dem dreifachen Genuß des Angenehmen,
wie dem dreifachen Gefühl des Elends zuführen
wollen, wenn das was es zum Menſchen macht,
in ihm kaum zu keimen begonnen — heißt die
Grenzſteine der Natur verrücken. Was den Be-
trug betrifft, ſo möcht’ ich es eben ſo wenig Be-
trug genannt wiſſen, wenn man ein Kind über
eine unvermeidliche Trennung ſchlafend hinweg-
bringt, als ich es Betrug nenne, wenn man ihm
überzuckerten Wurmſamen unter dem Namen von
Zuckerkörnern gibt. Den Wurmſamen ſoll es ein-
mal nehmen, den Zucker ißt es gern und wer mag
es betrogen heißen, wenn es den braunen Zitwer
der ihm wohlthut, nicht wahrnimmt, im Zucker
der ihm wohlſchmeckt. Sobald ein Kind begreifen
kann, daß es, und warum es Arzeneien nehmen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0309" n="301"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
denn beides wiegt einander auf. Das Kind wie<lb/>
das Thier haben keine vorher&#x017F;ehende Weisheit noch<lb/>
berechnenden Ver&#x017F;tand und wenig Erinnerung.<lb/>
Jhr Genuß wie ihr Schmerz i&#x017F;t Sache des Augen-<lb/>
blicks, und mit dem Augenblicke dahin. Das Kind<lb/>
durch frühzeitiges Rä&#x017F;onniren mit ihm gewalt&#x017F;am<lb/>
aus die&#x017F;em Stand der unmündigen Un&#x017F;chuld reißen,<lb/>
es früh dem dreifachen Genuß des Angenehmen,<lb/>
wie dem dreifachen Gefühl des Elends zuführen<lb/>
wollen, wenn das was es zum Men&#x017F;chen macht,<lb/>
in ihm kaum zu keimen begonnen &#x2014; heißt die<lb/>
Grenz&#x017F;teine der Natur verrücken. Was den Be-<lb/>
trug betrifft, &#x017F;o möcht&#x2019; ich es eben &#x017F;o wenig Be-<lb/>
trug genannt wi&#x017F;&#x017F;en, wenn man ein Kind über<lb/>
eine unvermeidliche Trennung &#x017F;chlafend hinweg-<lb/>
bringt, als ich es Betrug nenne, wenn man ihm<lb/>
überzuckerten Wurm&#x017F;amen unter dem Namen von<lb/>
Zuckerkörnern gibt. Den Wurm&#x017F;amen &#x017F;oll es ein-<lb/>
mal nehmen, den Zucker ißt es gern und wer mag<lb/>
es betrogen heißen, wenn es den braunen Zitwer<lb/>
der ihm wohlthut, nicht wahrnimmt, im Zucker<lb/>
der ihm wohl&#x017F;chmeckt. Sobald ein Kind begreifen<lb/>
kann, daß es, und warum es Arzeneien nehmen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[301/0309] denn beides wiegt einander auf. Das Kind wie das Thier haben keine vorherſehende Weisheit noch berechnenden Verſtand und wenig Erinnerung. Jhr Genuß wie ihr Schmerz iſt Sache des Augen- blicks, und mit dem Augenblicke dahin. Das Kind durch frühzeitiges Räſonniren mit ihm gewaltſam aus dieſem Stand der unmündigen Unſchuld reißen, es früh dem dreifachen Genuß des Angenehmen, wie dem dreifachen Gefühl des Elends zuführen wollen, wenn das was es zum Menſchen macht, in ihm kaum zu keimen begonnen — heißt die Grenzſteine der Natur verrücken. Was den Be- trug betrifft, ſo möcht’ ich es eben ſo wenig Be- trug genannt wiſſen, wenn man ein Kind über eine unvermeidliche Trennung ſchlafend hinweg- bringt, als ich es Betrug nenne, wenn man ihm überzuckerten Wurmſamen unter dem Namen von Zuckerkörnern gibt. Den Wurmſamen ſoll es ein- mal nehmen, den Zucker ißt es gern und wer mag es betrogen heißen, wenn es den braunen Zitwer der ihm wohlthut, nicht wahrnimmt, im Zucker der ihm wohlſchmeckt. Sobald ein Kind begreifen kann, daß es, und warum es Arzeneien nehmen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/309
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/309>, abgerufen am 21.11.2024.