Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite


Platov und Jda saßen seit langer Zeit zufällig
einmal wieder neben einander. Jda wie gewöhn-
lich ängstlich befangen, Platov ernst und finster:
beiden war nicht wohl in dieser mißbehaglichen
Nähe, aber es sollte gelesen werden, und es war
kein Vorwand da, sich zu entfernen. Woldemar
saß ihnen scharf blickend und unwillig gegenüber, als
ich die Briefe hervorzog und las. Das Unerwartete
darin wirkte wie ein Zauberschlag auf alle, aber
wunderbar bewegt waren die drei. Jda ward bleich
und bebte auf ihrem Sessel. Das junge Völkchen
strömte hinaus in dem Garten, um sich laut in
den Lüften auszufreuen. Jda wollte auch hinaus,
konnte aber nicht, kraftlos sank sie auf den Sessel
zurück. Platov ganz ergriffen, sprang auf, faßte
sie bebend in seine Arme: Engel des Himmels,
Du darfst nicht von uns scheiden! war alles was
der Überwältigte sagen konnte. Du darfst nicht,
oder ich sterbe mit Dir, wenn Du stirbst. -- Wol-
demar hatte genug. Jda's blasses Haupt hing an
Platov's Schulter. Jhre ganze Gestalt war eine
schöne Lilie. Platov schloß sie fest an sich, als
wolle er ihr Leben einhauchen. Sein betender



Platov und Jda ſaßen ſeit langer Zeit zufällig
einmal wieder neben einander. Jda wie gewöhn-
lich ängſtlich befangen, Platov ernſt und finſter:
beiden war nicht wohl in dieſer mißbehaglichen
Nähe, aber es ſollte geleſen werden, und es war
kein Vorwand da, ſich zu entfernen. Woldemar
ſaß ihnen ſcharf blickend und unwillig gegenüber, als
ich die Briefe hervorzog und las. Das Unerwartete
darin wirkte wie ein Zauberſchlag auf alle, aber
wunderbar bewegt waren die drei. Jda ward bleich
und bebte auf ihrem Seſſel. Das junge Völkchen
ſtrömte hinaus in dem Garten, um ſich laut in
den Lüften auszufreuen. Jda wollte auch hinaus,
konnte aber nicht, kraftlos ſank ſie auf den Seſſel
zurück. Platov ganz ergriffen, ſprang auf, faßte
ſie bebend in ſeine Arme: Engel des Himmels,
Du darfſt nicht von uns ſcheiden! war alles was
der Überwältigte ſagen konnte. Du darfſt nicht,
oder ich ſterbe mit Dir, wenn Du ſtirbſt. — Wol-
demar hatte genug. Jda’s blaſſes Haupt hing an
Platov’s Schulter. Jhre ganze Geſtalt war eine
ſchöne Lilie. Platov ſchloß ſie feſt an ſich, als
wolle er ihr Leben einhauchen. Sein betender

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0335" n="327"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Platov und Jda &#x017F;aßen &#x017F;eit langer Zeit zufällig<lb/>
einmal wieder neben einander. Jda wie gewöhn-<lb/>
lich äng&#x017F;tlich befangen, Platov ern&#x017F;t und fin&#x017F;ter:<lb/>
beiden war nicht wohl in die&#x017F;er mißbehaglichen<lb/>
Nähe, aber es &#x017F;ollte gele&#x017F;en werden, und es war<lb/>
kein Vorwand da, &#x017F;ich zu entfernen. Woldemar<lb/>
&#x017F;aß ihnen &#x017F;charf blickend und unwillig gegenüber, als<lb/>
ich die Briefe hervorzog und las. Das Unerwartete<lb/>
darin wirkte wie ein Zauber&#x017F;chlag auf alle, aber<lb/>
wunderbar bewegt waren die drei. Jda ward bleich<lb/>
und bebte auf ihrem Se&#x017F;&#x017F;el. Das junge Völkchen<lb/>
&#x017F;trömte hinaus in dem Garten, um &#x017F;ich laut in<lb/>
den Lüften auszufreuen. Jda wollte auch hinaus,<lb/>
konnte aber nicht, kraftlos &#x017F;ank &#x017F;ie auf den Se&#x017F;&#x017F;el<lb/>
zurück. Platov ganz ergriffen, &#x017F;prang auf, faßte<lb/>
&#x017F;ie bebend in &#x017F;eine Arme: Engel des Himmels,<lb/>
Du darf&#x017F;t nicht von uns &#x017F;cheiden! war alles was<lb/>
der Überwältigte &#x017F;agen konnte. Du darf&#x017F;t nicht,<lb/>
oder ich &#x017F;terbe mit Dir, wenn Du &#x017F;tirb&#x017F;t. &#x2014; Wol-<lb/>
demar hatte genug. Jda&#x2019;s bla&#x017F;&#x017F;es Haupt hing an<lb/>
Platov&#x2019;s Schulter. Jhre ganze Ge&#x017F;talt war eine<lb/>
&#x017F;chöne Lilie. Platov &#x017F;chloß &#x017F;ie fe&#x017F;t an &#x017F;ich, als<lb/>
wolle er ihr Leben einhauchen. Sein betender<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[327/0335] Platov und Jda ſaßen ſeit langer Zeit zufällig einmal wieder neben einander. Jda wie gewöhn- lich ängſtlich befangen, Platov ernſt und finſter: beiden war nicht wohl in dieſer mißbehaglichen Nähe, aber es ſollte geleſen werden, und es war kein Vorwand da, ſich zu entfernen. Woldemar ſaß ihnen ſcharf blickend und unwillig gegenüber, als ich die Briefe hervorzog und las. Das Unerwartete darin wirkte wie ein Zauberſchlag auf alle, aber wunderbar bewegt waren die drei. Jda ward bleich und bebte auf ihrem Seſſel. Das junge Völkchen ſtrömte hinaus in dem Garten, um ſich laut in den Lüften auszufreuen. Jda wollte auch hinaus, konnte aber nicht, kraftlos ſank ſie auf den Seſſel zurück. Platov ganz ergriffen, ſprang auf, faßte ſie bebend in ſeine Arme: Engel des Himmels, Du darfſt nicht von uns ſcheiden! war alles was der Überwältigte ſagen konnte. Du darfſt nicht, oder ich ſterbe mit Dir, wenn Du ſtirbſt. — Wol- demar hatte genug. Jda’s blaſſes Haupt hing an Platov’s Schulter. Jhre ganze Geſtalt war eine ſchöne Lilie. Platov ſchloß ſie feſt an ſich, als wolle er ihr Leben einhauchen. Sein betender

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/335
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/335>, abgerufen am 21.11.2024.