Seraphinens Heftigkeit kann mir aber oft recht bange machen für ihre Zukunft. Jch glaubte an- fangs, diese wäre bloß Nachlaß ihrer Krankheit, aber sie zeigt sich immer mehr als Eigenthümlich- keit ihrer energischen Natur. Seit sie mich wieder hat, ist ihre Liebe zu mir fast allzuheftig. Sie will mir gar nicht mehr von der Seite weichen. Die Äußerungen dieser Liebe sind vom Eigensinn oft nicht zu unterscheiden. Es ist dies eine arge Klippe der Erziehung, woran die besten Mütter um so leichter scheitern, je tiefer die Liebe als Grund- prinzip ihres Seyns in ihnen gewurzelt ist. Auch Deine Freundin fürchtet sich, ihre pädagogische Vernunft an dieser Klippe scheitern zu sehen. Wehe thut es jedem Herzen, auch dem kindlichen, sich ein Übermaß von Liebe Schuld geben zu lassen. Und nicht selten erzeugt zurückgegebene Liebesäuße- rung Bitterkeit in der Kinderseele. Und doch -- wer kann ein solches Herz immer befriedigen? und wer darf das, wenn es mit Eigensinn seine An- sprüche auf uns jeden Moment geltend machen will! Neulich Morgens kam das Kind an meine Thüre, um mir Blumen zu bringen, und wie immer durch
Seraphinens Heftigkeit kann mir aber oft recht bange machen für ihre Zukunft. Jch glaubte an- fangs, dieſe wäre bloß Nachlaß ihrer Krankheit, aber ſie zeigt ſich immer mehr als Eigenthümlich- keit ihrer energiſchen Natur. Seit ſie mich wieder hat, iſt ihre Liebe zu mir faſt allzuheftig. Sie will mir gar nicht mehr von der Seite weichen. Die Äußerungen dieſer Liebe ſind vom Eigenſinn oft nicht zu unterſcheiden. Es iſt dies eine arge Klippe der Erziehung, woran die beſten Mütter um ſo leichter ſcheitern, je tiefer die Liebe als Grund- prinzip ihres Seyns in ihnen gewurzelt iſt. Auch Deine Freundin fürchtet ſich, ihre pädagogiſche Vernunft an dieſer Klippe ſcheitern zu ſehen. Wehe thut es jedem Herzen, auch dem kindlichen, ſich ein Übermaß von Liebe Schuld geben zu laſſen. Und nicht ſelten erzeugt zurückgegebene Liebesäuße- rung Bitterkeit in der Kinderſeele. Und doch — wer kann ein ſolches Herz immer befriedigen? und wer darf das, wenn es mit Eigenſinn ſeine An- ſprüche auf uns jeden Moment geltend machen will! Neulich Morgens kam das Kind an meine Thüre, um mir Blumen zu bringen, und wie immer durch
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Seraphinens Heftigkeit kann mir aber oft recht
bange machen für ihre Zukunft. Jch glaubte an-
fangs, dieſe wäre bloß Nachlaß ihrer Krankheit,
aber ſie zeigt ſich immer mehr als Eigenthümlich-
keit ihrer energiſchen Natur. Seit ſie mich wieder
hat, iſt ihre Liebe zu mir faſt allzuheftig. Sie
will mir gar nicht mehr von der Seite weichen.
Die Äußerungen dieſer Liebe ſind vom Eigenſinn
oft nicht zu unterſcheiden. Es iſt dies eine arge
Klippe der Erziehung, woran die beſten Mütter
um ſo leichter ſcheitern, je tiefer die Liebe als Grund-
prinzip ihres Seyns in ihnen gewurzelt iſt. Auch
Deine Freundin fürchtet ſich, ihre pädagogiſche
Vernunft an dieſer Klippe ſcheitern zu ſehen.
Wehe thut es jedem Herzen, auch dem kindlichen,
ſich ein Übermaß von Liebe Schuld geben zu laſſen.
Und nicht ſelten erzeugt zurückgegebene Liebesäuße-
rung Bitterkeit in der Kinderſeele. Und doch —
wer kann ein ſolches Herz immer befriedigen? und
wer darf das, wenn es mit Eigenſinn ſeine An-
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Neulich Morgens kam das Kind an meine Thüre,
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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/360>, abgerufen am 21.11.2024.
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