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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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Milly muß auch artig seyn! Gestern war Milly's
Geburtstag, und wir hatten sie Morgens mit vie-
len Blumen und einer Menge Spielsachen be-
schenkt. Ehe es Mittag war, hatte sie alles schon
wieder ausgetheilt, bis auf ein kleines englisches
Buch: little Jack, worauf sie, ohne lesen zu
können, einen großen Werth legte. Neulich Abends
rief sie mir spät noch aus ihrem Bettchen zu: ich
kann gar nicht schlafen, Tante. Und warum kannst
Du nicht schlafen, Kind? Weil die kleinen Thiere
alle laufen können, und die großen Bäume gar
nicht. Du weißt ja, Milly, daß die Bäume fest
sind in der Erde. Aber warum müssen denn die
Bäume immer so fest in der Erde stehen? -- Weil
sie nicht leben, und sich nicht halten könnten, dar-
um mußten sie mit ihren Wurzeln in der Erde be-
festigt seyn, damit sie nicht umfallen, und die
Vorübergehenden todtschlagen. Aber warum leben
sie denn nicht: es wäre doch viel besser, wenn sie
auch frei herumlaufen könnten, wo sie wollten. --
Die Welt ist ein großes Haus, liebe Milly. Jn
einem großen Hause müssen allerlei Geräthe seyn
für die Bewohner des Hauses. Du hast mich ja



Milly muß auch artig ſeyn! Geſtern war Milly’s
Geburtstag, und wir hatten ſie Morgens mit vie-
len Blumen und einer Menge Spielſachen be-
ſchenkt. Ehe es Mittag war, hatte ſie alles ſchon
wieder ausgetheilt, bis auf ein kleines engliſches
Buch: little Jack, worauf ſie, ohne leſen zu
können, einen großen Werth legte. Neulich Abends
rief ſie mir ſpät noch aus ihrem Bettchen zu: ich
kann gar nicht ſchlafen, Tante. Und warum kannſt
Du nicht ſchlafen, Kind? Weil die kleinen Thiere
alle laufen können, und die großen Bäume gar
nicht. Du weißt ja, Milly, daß die Bäume feſt
ſind in der Erde. Aber warum müſſen denn die
Bäume immer ſo feſt in der Erde ſtehen? — Weil
ſie nicht leben, und ſich nicht halten könnten, dar-
um mußten ſie mit ihren Wurzeln in der Erde be-
feſtigt ſeyn, damit ſie nicht umfallen, und die
Vorübergehenden todtſchlagen. Aber warum leben
ſie denn nicht: es wäre doch viel beſſer, wenn ſie
auch frei herumlaufen könnten, wo ſie wollten. —
Die Welt iſt ein großes Haus, liebe Milly. Jn
einem großen Hauſe müſſen allerlei Geräthe ſeyn
für die Bewohner des Hauſes. Du haſt mich ja

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[364/0372] Milly muß auch artig ſeyn! Geſtern war Milly’s Geburtstag, und wir hatten ſie Morgens mit vie- len Blumen und einer Menge Spielſachen be- ſchenkt. Ehe es Mittag war, hatte ſie alles ſchon wieder ausgetheilt, bis auf ein kleines engliſches Buch: little Jack, worauf ſie, ohne leſen zu können, einen großen Werth legte. Neulich Abends rief ſie mir ſpät noch aus ihrem Bettchen zu: ich kann gar nicht ſchlafen, Tante. Und warum kannſt Du nicht ſchlafen, Kind? Weil die kleinen Thiere alle laufen können, und die großen Bäume gar nicht. Du weißt ja, Milly, daß die Bäume feſt ſind in der Erde. Aber warum müſſen denn die Bäume immer ſo feſt in der Erde ſtehen? — Weil ſie nicht leben, und ſich nicht halten könnten, dar- um mußten ſie mit ihren Wurzeln in der Erde be- feſtigt ſeyn, damit ſie nicht umfallen, und die Vorübergehenden todtſchlagen. Aber warum leben ſie denn nicht: es wäre doch viel beſſer, wenn ſie auch frei herumlaufen könnten, wo ſie wollten. — Die Welt iſt ein großes Haus, liebe Milly. Jn einem großen Hauſe müſſen allerlei Geräthe ſeyn für die Bewohner des Hauſes. Du haſt mich ja

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/372>, abgerufen am 21.11.2024.