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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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noch nicht wissen können, gehorchen sie ihren sicht-
baren Eltern, und wenn die nicht mehr sind, so
gehorchen sie denen, die sie an Eltern statt lieben
und pflegen, und ihnen wohlthun. -- Milly ward
ganz still. Und ich entließ sie. Am andern Mor-
gen, als sie aufwachte, sagte sie statt des guten
Morgens: ich bin doch keine Magnetnadel, denn
die muß immer nach der einen Seite hin, ich
muß aber nicht, ich will nun einmal gehorchen,
aber keinem andern Menschen, als der Tante,
das sage ich euch allen. -- Dies ist ihr vorläufig
zugestanden.

Da siehst Du mich also wieder in voller neuer
Thätigkeit, und beschäftigt wie noch nie. Wäre
Milly nur ein Jahr älter, als sie ist, dann möcht'
ich schon ihre Erziehung nicht mehr übernehmen,
und dürft' es auch nicht, weil es auf Seraphinen
verderblich wirken müßte. Jst eine starke weib-
liche Natur einmal bis zu einem gewissen Grade
in Eigenwilligkeit erhärtet, dann scheitert die pä-
dagogische Kunst an ihr ganz nothwendig. Alles,
was sie beugen soll, macht sie nur noch widerstre-



noch nicht wiſſen können, gehorchen ſie ihren ſicht-
baren Eltern, und wenn die nicht mehr ſind, ſo
gehorchen ſie denen, die ſie an Eltern ſtatt lieben
und pflegen, und ihnen wohlthun. — Milly ward
ganz ſtill. Und ich entließ ſie. Am andern Mor-
gen, als ſie aufwachte, ſagte ſie ſtatt des guten
Morgens: ich bin doch keine Magnetnadel, denn
die muß immer nach der einen Seite hin, ich
muß aber nicht, ich will nun einmal gehorchen,
aber keinem andern Menſchen, als der Tante,
das ſage ich euch allen. — Dies iſt ihr vorläufig
zugeſtanden.

Da ſiehſt Du mich alſo wieder in voller neuer
Thätigkeit, und beſchäftigt wie noch nie. Wäre
Milly nur ein Jahr älter, als ſie iſt, dann möcht’
ich ſchon ihre Erziehung nicht mehr übernehmen,
und dürft’ es auch nicht, weil es auf Seraphinen
verderblich wirken müßte. Jſt eine ſtarke weib-
liche Natur einmal bis zu einem gewiſſen Grade
in Eigenwilligkeit erhärtet, dann ſcheitert die pä-
dagogiſche Kunſt an ihr ganz nothwendig. Alles,
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[368/0376] noch nicht wiſſen können, gehorchen ſie ihren ſicht- baren Eltern, und wenn die nicht mehr ſind, ſo gehorchen ſie denen, die ſie an Eltern ſtatt lieben und pflegen, und ihnen wohlthun. — Milly ward ganz ſtill. Und ich entließ ſie. Am andern Mor- gen, als ſie aufwachte, ſagte ſie ſtatt des guten Morgens: ich bin doch keine Magnetnadel, denn die muß immer nach der einen Seite hin, ich muß aber nicht, ich will nun einmal gehorchen, aber keinem andern Menſchen, als der Tante, das ſage ich euch allen. — Dies iſt ihr vorläufig zugeſtanden. Da ſiehſt Du mich alſo wieder in voller neuer Thätigkeit, und beſchäftigt wie noch nie. Wäre Milly nur ein Jahr älter, als ſie iſt, dann möcht’ ich ſchon ihre Erziehung nicht mehr übernehmen, und dürft’ es auch nicht, weil es auf Seraphinen verderblich wirken müßte. Jſt eine ſtarke weib- liche Natur einmal bis zu einem gewiſſen Grade in Eigenwilligkeit erhärtet, dann ſcheitert die pä- dagogiſche Kunſt an ihr ganz nothwendig. Alles, was ſie beugen ſoll, macht ſie nur noch widerſtre-

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/376>, abgerufen am 21.11.2024.