festes Beharren beim einmal gefaßten Ent- schluß ist. Sie begriff das, und so bald sie ei- ne Sache eingesehen hat, bin ich von ihrem Muth und von ihrer Kraft, sich zusammen zu fas- sen, gewiß. Auch entsprach sie meiner Erwar- tung vollkommen. Als der angesetzte Tag der Abreise gekommen war, schien gerade sie die stärk- ste von uns allen. Clärchen zerfloß in Thränen, und ließ ihren Schmerz unverholen ausbrechen. Schon früher hatte sie sehr naiv oft laut gewünscht, daß doch Woldemar auch ihr Bruder seyn möchte, damit sie auch künftig, wenn er ein Mann sey, ihn so lieben dürfe, wie Jda. Mathildens stol- zes Gemüth fühlte sich gekränkt, zu sehen, wie er nicht nur Jda, sondern auch Clärchen vorzog, obgleich er in dem letzten Winter gegen sie immer freundlich war: aber sie unterschied sehr fein, daß seine Freundschaft gegen sie mehr Güte als Liebe war. Dennoch mußte auch sie sich weinend abkeh- ren, als er ihr die Hand zum Abschiede bot, und sie bat, ihn nicht zu vergessen, und Jda schwe- sterlich lieb zu haben. Clärchen fiel ihr weinend um den Hals, und Mathilde wendete sich mit
feſtes Beharren beim einmal gefaßten Ent- ſchluß iſt. Sie begriff das, und ſo bald ſie ei- ne Sache eingeſehen hat, bin ich von ihrem Muth und von ihrer Kraft, ſich zuſammen zu faſ- ſen, gewiß. Auch entſprach ſie meiner Erwar- tung vollkommen. Als der angeſetzte Tag der Abreiſe gekommen war, ſchien gerade ſie die ſtärk- ſte von uns allen. Clärchen zerfloß in Thränen, und ließ ihren Schmerz unverholen ausbrechen. Schon früher hatte ſie ſehr naiv oft laut gewünſcht, daß doch Woldemar auch ihr Bruder ſeyn möchte, damit ſie auch künftig, wenn er ein Mann ſey, ihn ſo lieben dürfe, wie Jda. Mathildens ſtol- zes Gemüth fühlte ſich gekränkt, zu ſehen, wie er nicht nur Jda, ſondern auch Clärchen vorzog, obgleich er in dem letzten Winter gegen ſie immer freundlich war: aber ſie unterſchied ſehr fein, daß ſeine Freundſchaft gegen ſie mehr Güte als Liebe war. Dennoch mußte auch ſie ſich weinend abkeh- ren, als er ihr die Hand zum Abſchiede bot, und ſie bat, ihn nicht zu vergeſſen, und Jda ſchwe- ſterlich lieb zu haben. Clärchen fiel ihr weinend um den Hals, und Mathilde wendete ſich mit
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0076"n="68"/>
feſtes Beharren beim einmal gefaßten Ent-<lb/>ſchluß iſt. Sie begriff das, und ſo bald ſie ei-<lb/>
ne Sache eingeſehen hat, bin ich von ihrem<lb/>
Muth und von ihrer Kraft, ſich zuſammen zu faſ-<lb/>ſen, gewiß. Auch entſprach ſie meiner Erwar-<lb/>
tung vollkommen. Als der angeſetzte Tag der<lb/>
Abreiſe gekommen war, ſchien gerade ſie die ſtärk-<lb/>ſte von uns allen. Clärchen zerfloß in Thränen,<lb/>
und ließ ihren Schmerz unverholen ausbrechen.<lb/>
Schon früher hatte ſie ſehr naiv oft laut gewünſcht,<lb/>
daß doch Woldemar auch <hirendition="#g">ihr</hi> Bruder ſeyn möchte,<lb/>
damit ſie auch künftig, wenn er ein Mann ſey,<lb/>
ihn ſo lieben dürfe, wie Jda. Mathildens ſtol-<lb/>
zes Gemüth fühlte ſich gekränkt, zu ſehen, wie<lb/>
er nicht nur Jda, ſondern auch Clärchen vorzog,<lb/>
obgleich er in dem letzten Winter gegen ſie immer<lb/>
freundlich war: aber ſie unterſchied ſehr fein, daß<lb/>ſeine Freundſchaft gegen ſie mehr Güte als Liebe<lb/>
war. Dennoch mußte auch ſie ſich weinend abkeh-<lb/>
ren, als er ihr die Hand zum Abſchiede bot, und<lb/>ſie bat, ihn nicht zu vergeſſen, und Jda ſchwe-<lb/>ſterlich lieb zu haben. Clärchen fiel ihr weinend<lb/>
um den Hals, und Mathilde wendete ſich mit<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[68/0076]
feſtes Beharren beim einmal gefaßten Ent-
ſchluß iſt. Sie begriff das, und ſo bald ſie ei-
ne Sache eingeſehen hat, bin ich von ihrem
Muth und von ihrer Kraft, ſich zuſammen zu faſ-
ſen, gewiß. Auch entſprach ſie meiner Erwar-
tung vollkommen. Als der angeſetzte Tag der
Abreiſe gekommen war, ſchien gerade ſie die ſtärk-
ſte von uns allen. Clärchen zerfloß in Thränen,
und ließ ihren Schmerz unverholen ausbrechen.
Schon früher hatte ſie ſehr naiv oft laut gewünſcht,
daß doch Woldemar auch ihr Bruder ſeyn möchte,
damit ſie auch künftig, wenn er ein Mann ſey,
ihn ſo lieben dürfe, wie Jda. Mathildens ſtol-
zes Gemüth fühlte ſich gekränkt, zu ſehen, wie
er nicht nur Jda, ſondern auch Clärchen vorzog,
obgleich er in dem letzten Winter gegen ſie immer
freundlich war: aber ſie unterſchied ſehr fein, daß
ſeine Freundſchaft gegen ſie mehr Güte als Liebe
war. Dennoch mußte auch ſie ſich weinend abkeh-
ren, als er ihr die Hand zum Abſchiede bot, und
ſie bat, ihn nicht zu vergeſſen, und Jda ſchwe-
ſterlich lieb zu haben. Clärchen fiel ihr weinend
um den Hals, und Mathilde wendete ſich mit
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/76>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.