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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 1. Berlin u. a., 1827.

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Lustwegen und Anlagen stets ein eben so unwillkommener Gast,
als die ungleich gestaltlosere Nessel. Dagegen erfreut mich
der Farren, ja selbst, wenn nicht im Uebermaaß, die saftige
Klette. Ich erkläre mir diese Wirkung aus der größeren
Deutlichkeit und Schärfe der Gesammterscheinung der letzten,
der bleichen Farbe, der dünnen, unwesenhaften, schlaffen Er-
scheinung der ersten. Denn es ist mir deutlich bewußt, daß
hier keine geheime Wahlverwandtschaft, kein Vorurtheil, son-
dern der bloße Sinneseindruck mich veranlaßt, die eine Pflanze
mit Lust, die andere mit Widerwillen wahrzunehmen. Dahin
gehört nicht minder der unwiderstehliche Reiz, den edle Ge-
steine auch für Solche haben, welche sicher nicht durch den
Wunsch sie zu besitzen, also auch nicht durch den Begriff ih-
res relativen Werthes bestimmt werden, sie zu bewundern.
Es ist, wie ein unvergleichlicher Beobachter andeutet *), die
Tiefe und Reinheit der Farbe, die Höhe des Glanzes, welche
im Edelsteine den Gesichtssinn erfüllt und durchwärmt und
den rein sinnlichen Schönheitseindruck zu einer ungewöhnlichen
Höhe steigert.

Die zweyte Art der Schönheit beruhet auf bestimmten
Verhältnissen und Fügungen von Formen und Linien, welche
auf eine unerklärte und dunkle Weise, doch der Wirkung nach
ganz sicher und ausgemacht, nicht etwa bloß das Gesicht an-
genehm anregen, vielmehr die gesammte Lebensthätigkeit er-
greifen und die Seele nothwendig in die glücklichste Stim-
mung versetzen. Diese Art der Schönheit scheint, gleich der
musikalischen Harmonie, in der allgemeinen Weltordnung ihr

*) Göthe, Wahlverwandtsch. Thl. I. S. 109. (Ausg. 1809.)
-- "wenn der Smaragd durch seine herrliche Farbe dem Gesichte
wohlthut." --

Luſtwegen und Anlagen ſtets ein eben ſo unwillkommener Gaſt,
als die ungleich geſtaltloſere Neſſel. Dagegen erfreut mich
der Farren, ja ſelbſt, wenn nicht im Uebermaaß, die ſaftige
Klette. Ich erklaͤre mir dieſe Wirkung aus der groͤßeren
Deutlichkeit und Schaͤrfe der Geſammterſcheinung der letzten,
der bleichen Farbe, der duͤnnen, unweſenhaften, ſchlaffen Er-
ſcheinung der erſten. Denn es iſt mir deutlich bewußt, daß
hier keine geheime Wahlverwandtſchaft, kein Vorurtheil, ſon-
dern der bloße Sinneseindruck mich veranlaßt, die eine Pflanze
mit Luſt, die andere mit Widerwillen wahrzunehmen. Dahin
gehoͤrt nicht minder der unwiderſtehliche Reiz, den edle Ge-
ſteine auch fuͤr Solche haben, welche ſicher nicht durch den
Wunſch ſie zu beſitzen, alſo auch nicht durch den Begriff ih-
res relativen Werthes beſtimmt werden, ſie zu bewundern.
Es iſt, wie ein unvergleichlicher Beobachter andeutet *), die
Tiefe und Reinheit der Farbe, die Hoͤhe des Glanzes, welche
im Edelſteine den Geſichtsſinn erfuͤllt und durchwaͤrmt und
den rein ſinnlichen Schoͤnheitseindruck zu einer ungewoͤhnlichen
Hoͤhe ſteigert.

Die zweyte Art der Schoͤnheit beruhet auf beſtimmten
Verhaͤltniſſen und Fuͤgungen von Formen und Linien, welche
auf eine unerklaͤrte und dunkle Weiſe, doch der Wirkung nach
ganz ſicher und ausgemacht, nicht etwa bloß das Geſicht an-
genehm anregen, vielmehr die geſammte Lebensthaͤtigkeit er-
greifen und die Seele nothwendig in die gluͤcklichſte Stim-
mung verſetzen. Dieſe Art der Schoͤnheit ſcheint, gleich der
muſikaliſchen Harmonie, in der allgemeinen Weltordnung ihr

*) Goͤthe, Wahlverwandtſch. Thl. I. S. 109. (Ausg. 1809.)
— „wenn der Smaragd durch ſeine herrliche Farbe dem Geſichte
wohlthut.“ —
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[140/0158] Luſtwegen und Anlagen ſtets ein eben ſo unwillkommener Gaſt, als die ungleich geſtaltloſere Neſſel. Dagegen erfreut mich der Farren, ja ſelbſt, wenn nicht im Uebermaaß, die ſaftige Klette. Ich erklaͤre mir dieſe Wirkung aus der groͤßeren Deutlichkeit und Schaͤrfe der Geſammterſcheinung der letzten, der bleichen Farbe, der duͤnnen, unweſenhaften, ſchlaffen Er- ſcheinung der erſten. Denn es iſt mir deutlich bewußt, daß hier keine geheime Wahlverwandtſchaft, kein Vorurtheil, ſon- dern der bloße Sinneseindruck mich veranlaßt, die eine Pflanze mit Luſt, die andere mit Widerwillen wahrzunehmen. Dahin gehoͤrt nicht minder der unwiderſtehliche Reiz, den edle Ge- ſteine auch fuͤr Solche haben, welche ſicher nicht durch den Wunſch ſie zu beſitzen, alſo auch nicht durch den Begriff ih- res relativen Werthes beſtimmt werden, ſie zu bewundern. Es iſt, wie ein unvergleichlicher Beobachter andeutet *), die Tiefe und Reinheit der Farbe, die Hoͤhe des Glanzes, welche im Edelſteine den Geſichtsſinn erfuͤllt und durchwaͤrmt und den rein ſinnlichen Schoͤnheitseindruck zu einer ungewoͤhnlichen Hoͤhe ſteigert. Die zweyte Art der Schoͤnheit beruhet auf beſtimmten Verhaͤltniſſen und Fuͤgungen von Formen und Linien, welche auf eine unerklaͤrte und dunkle Weiſe, doch der Wirkung nach ganz ſicher und ausgemacht, nicht etwa bloß das Geſicht an- genehm anregen, vielmehr die geſammte Lebensthaͤtigkeit er- greifen und die Seele nothwendig in die gluͤcklichſte Stim- mung verſetzen. Dieſe Art der Schoͤnheit ſcheint, gleich der muſikaliſchen Harmonie, in der allgemeinen Weltordnung ihr *) Goͤthe, Wahlverwandtſch. Thl. I. S. 109. (Ausg. 1809.) — „wenn der Smaragd durch ſeine herrliche Farbe dem Geſichte wohlthut.“ —

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Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 1. Berlin u. a., 1827, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen01_1827/158>, abgerufen am 21.11.2024.