Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831.

Bild:
<< vorherige Seite

Charakter hinzugenommen, darlegen zu können, daß Raphaels
erste Ausflucht nach Florenz zu Ende des Jahres 1504, oder
zu Anfang des folgenden, kurz an der Grenze beider Jahre
sich müsse ereignet haben. Das Sposalizio, mit dem Jahre
1504, zeigt, nach meinen Wahrnehmungen, noch keine Spur
der Bekanntschaft mit florentinischen Richtungen und Vorbil-
dern *). Hingegen ist an dem Wandgemälde im Kloster S.

Se-
*) S. Lett. sulla pitt. etc. ed. Mil. To. I. lett. 1. prima octobris
1504, den Brief, worin die Herzogin von Urbino den Raphael dem Gon-
faloniere von Florenz, Soderini, empfiehlt. Der Brief der Herzogin
hat in allen Formen das Ansehn der Aechtheit; auch ist kein Grund
denkbar, weßhalb ein solcher Brief erdichtet worden sey. Unter diesen
Umständen wird man dessen Aechtheit nicht wohl um eines einzigen
Satzes willen verwerfen können, dessen gezwungene und fehlerhafte Con-
struction, auch abgesehen von der Unvereinbarkeit mit den Entdeckungen
des Pungileoni, den Verdacht erweckt, daß der Abschreiber ihn nicht rich-
tig gelesen und nach seiner Ansicht darin geändert habe. Dieser Satz
lautet nach dem Abdrucke der obigen Ausgabe der Lettere sulla pit-
tura. Et perche il padre so che e molto virtuoso et e mio af-
fezionato et cosi il figliuolo discreto e gentile giovane, per ogni
rispetto lo amo sommamente etc.
-- In dieser Lesart überzeugt mich
das: so che e, keinesweges; es ist eben so gezwungen, als unrichtig; das
so, nach der Analogie damaligen Brief- und Conversationsstyles, ist
sicher nichts anderes, als: suo; die Stelle aber, wo der Abschreiber che
e
gelesen, wenn Pungileoni's Angaben richtig sind, nothwendig irgend
ein praeteritum; das zweite e offenbar eingeschoben. Einem wenig ge-
übten Leser der Schriftarten jener Zeit konnte die Abbreviatur: sta0,
d. i. stato, leicht als: che, erscheinen. Die Einschiebung dieses che
macht aber den ganzen Satz verworren und falsch. Allem Ansehn nach
hat also die Herzogin geschrieben: Et perche il padre suo stato e molto
virtuoso et mio affezionato, et cosi il figliuolo (sendo) discreto e
gentile giovane etc.
Denn unter allen Umständen ist nach figliuolo das
Zeitwort ausgefallen, sey es in der Abschrift, oder schon im Originale
durch ein Versehen, welches nicht ohne Beyspiel ist. -- Die Abschrift,

Charakter hinzugenommen, darlegen zu koͤnnen, daß Raphaels
erſte Ausflucht nach Florenz zu Ende des Jahres 1504, oder
zu Anfang des folgenden, kurz an der Grenze beider Jahre
ſich muͤſſe ereignet haben. Das Spoſalizio, mit dem Jahre
1504, zeigt, nach meinen Wahrnehmungen, noch keine Spur
der Bekanntſchaft mit florentiniſchen Richtungen und Vorbil-
dern *). Hingegen iſt an dem Wandgemaͤlde im Kloſter S.

Se-
*) S. Lett. sulla pitt. etc. ed. Mil. To. I. lett. 1. prima octobris
1504, den Brief, worin die Herzogin von Urbino den Raphael dem Gon-
faloniere von Florenz, Soderini, empfiehlt. Der Brief der Herzogin
hat in allen Formen das Anſehn der Aechtheit; auch iſt kein Grund
denkbar, weßhalb ein ſolcher Brief erdichtet worden ſey. Unter dieſen
Umſtänden wird man deſſen Aechtheit nicht wohl um eines einzigen
Satzes willen verwerfen können, deſſen gezwungene und fehlerhafte Con-
ſtruction, auch abgeſehen von der Unvereinbarkeit mit den Entdeckungen
des Pungileoni, den Verdacht erweckt, daß der Abſchreiber ihn nicht rich-
tig geleſen und nach ſeiner Anſicht darin geändert habe. Dieſer Satz
lautet nach dem Abdrucke der obigen Ausgabe der Lettere sulla pit-
tura. Et perchè il padre so che é molto virtuoso et é mio af-
fezionato et così il figliuolo discreto e gentile giovane, per ogni
rispetto lo amo sommamente etc.
— In dieſer Lesart überzeugt mich
das: so che é, keinesweges; es iſt eben ſo gezwungen, als unrichtig; das
so, nach der Analogie damaligen Brief- und Converſationsſtyles, iſt
ſicher nichts anderes, als: suo; die Stelle aber, wo der Abſchreiber che
é
geleſen, wenn Pungileoni’s Angaben richtig ſind, nothwendig irgend
ein praeteritum; das zweite é offenbar eingeſchoben. Einem wenig ge-
übten Leſer der Schriftarten jener Zeit konnte die Abbreviatur: sta0,
d. i. stato, leicht als: che, erſcheinen. Die Einſchiebung dieſes che
macht aber den ganzen Satz verworren und falſch. Allem Anſehn nach
hat alſo die Herzogin geſchrieben: Et perché il padre suo stato é molto
virtuoso et mio affezionato, et così il figliuolo (sendo) discreto e
gentile giovane etc.
Denn unter allen Umſtänden iſt nach figliuolo das
Zeitwort ausgefallen, ſey es in der Abſchrift, oder ſchon im Originale
durch ein Verſehen, welches nicht ohne Beyſpiel iſt. — Die Abſchrift,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0070" n="48"/>
Charakter hinzugenommen, darlegen zu ko&#x0364;nnen, daß <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118597787">Raphaels</persName><lb/>
er&#x017F;te Ausflucht nach <placeName>Florenz</placeName> zu Ende des Jahres 1504, oder<lb/>
zu Anfang des folgenden, kurz an der Grenze beider Jahre<lb/>
&#x017F;ich mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e ereignet haben. Das Spo&#x017F;alizio, mit dem Jahre<lb/>
1504, zeigt, nach meinen Wahrnehmungen, noch keine Spur<lb/>
der Bekannt&#x017F;chaft mit florentini&#x017F;chen Richtungen und Vorbil-<lb/>
dern <note xml:id="seg2pn_3_1" next="#seg2pn_3_2" place="foot" n="*)">S. <hi rendition="#aq">Lett. sulla pitt. etc. ed. Mil. To. I. lett. 1. prima octobris</hi><lb/>
1504, den Brief, worin die Herzogin von <placeName>Urbino</placeName> den <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118597787">Raphael</persName> dem Gon-<lb/>
faloniere von <placeName>Florenz</placeName>, <persName ref="http://d-nb.info/gnd/130035165">Soderini</persName>, empfiehlt. Der Brief der Herzogin<lb/>
hat in allen Formen das An&#x017F;ehn der Aechtheit; auch i&#x017F;t kein Grund<lb/>
denkbar, weßhalb ein &#x017F;olcher Brief erdichtet worden &#x017F;ey. Unter die&#x017F;en<lb/>
Um&#x017F;tänden wird man de&#x017F;&#x017F;en Aechtheit nicht wohl um eines einzigen<lb/>
Satzes willen verwerfen können, de&#x017F;&#x017F;en gezwungene und fehlerhafte Con-<lb/>
&#x017F;truction, auch abge&#x017F;ehen von der Unvereinbarkeit mit den Entdeckungen<lb/>
des <persName ref="http://d-nb.info/gnd/100387985">Pungileoni</persName>, den Verdacht erweckt, daß der Ab&#x017F;chreiber ihn nicht rich-<lb/>
tig gele&#x017F;en und nach &#x017F;einer An&#x017F;icht darin geändert habe. Die&#x017F;er Satz<lb/>
lautet nach dem Abdrucke der obigen Ausgabe der <hi rendition="#aq">Lettere sulla pit-<lb/>
tura. Et perchè il padre so che <hi rendition="#i">é</hi> molto virtuoso et é mio af-<lb/>
fezionato et così il figliuolo discreto e gentile giovane, per ogni<lb/>
rispetto lo amo sommamente etc.</hi> &#x2014; In die&#x017F;er Lesart überzeugt mich<lb/>
das: <hi rendition="#aq">so che é,</hi> keinesweges; es i&#x017F;t eben &#x017F;o gezwungen, als unrichtig; das<lb/><hi rendition="#aq">so,</hi> nach der Analogie damaligen Brief- und Conver&#x017F;ations&#x017F;tyles, i&#x017F;t<lb/>
&#x017F;icher nichts anderes, als: <hi rendition="#aq">suo;</hi> die Stelle aber, wo der Ab&#x017F;chreiber <hi rendition="#aq">che<lb/>
é</hi> gele&#x017F;en, wenn <persName ref="http://d-nb.info/gnd/100387985">Pungileoni&#x2019;s</persName> Angaben richtig &#x017F;ind, nothwendig irgend<lb/>
ein <hi rendition="#aq">praeteritum;</hi> das zweite <hi rendition="#aq">é</hi> offenbar einge&#x017F;choben. Einem wenig ge-<lb/>
übten Le&#x017F;er der Schriftarten jener Zeit konnte die Abbreviatur: <hi rendition="#aq">sta<hi rendition="#sup">0</hi>,</hi><lb/>
d. i. <hi rendition="#aq">stato,</hi> leicht als: <hi rendition="#aq">che,</hi> er&#x017F;cheinen. Die Ein&#x017F;chiebung die&#x017F;es <hi rendition="#aq">che</hi><lb/>
macht aber den ganzen Satz verworren und fal&#x017F;ch. Allem An&#x017F;ehn nach<lb/>
hat al&#x017F;o die Herzogin ge&#x017F;chrieben: <hi rendition="#aq">Et perché il padre <hi rendition="#g">suo</hi> stato é molto<lb/>
virtuoso et mio affezionato, et così il figliuolo (sendo) discreto e<lb/>
gentile giovane etc.</hi> Denn unter allen Um&#x017F;tänden i&#x017F;t nach <hi rendition="#aq">figliuolo</hi> das<lb/>
Zeitwort ausgefallen, &#x017F;ey es in der Ab&#x017F;chrift, oder &#x017F;chon im Originale<lb/>
durch ein Ver&#x017F;ehen, welches nicht ohne Bey&#x017F;piel i&#x017F;t. &#x2014; Die Ab&#x017F;chrift,</note>. Hingegen i&#x017F;t an dem Wandgema&#x0364;lde im Klo&#x017F;ter S.<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Se-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[48/0070] Charakter hinzugenommen, darlegen zu koͤnnen, daß Raphaels erſte Ausflucht nach Florenz zu Ende des Jahres 1504, oder zu Anfang des folgenden, kurz an der Grenze beider Jahre ſich muͤſſe ereignet haben. Das Spoſalizio, mit dem Jahre 1504, zeigt, nach meinen Wahrnehmungen, noch keine Spur der Bekanntſchaft mit florentiniſchen Richtungen und Vorbil- dern *). Hingegen iſt an dem Wandgemaͤlde im Kloſter S. Se- *) S. Lett. sulla pitt. etc. ed. Mil. To. I. lett. 1. prima octobris 1504, den Brief, worin die Herzogin von Urbino den Raphael dem Gon- faloniere von Florenz, Soderini, empfiehlt. Der Brief der Herzogin hat in allen Formen das Anſehn der Aechtheit; auch iſt kein Grund denkbar, weßhalb ein ſolcher Brief erdichtet worden ſey. Unter dieſen Umſtänden wird man deſſen Aechtheit nicht wohl um eines einzigen Satzes willen verwerfen können, deſſen gezwungene und fehlerhafte Con- ſtruction, auch abgeſehen von der Unvereinbarkeit mit den Entdeckungen des Pungileoni, den Verdacht erweckt, daß der Abſchreiber ihn nicht rich- tig geleſen und nach ſeiner Anſicht darin geändert habe. Dieſer Satz lautet nach dem Abdrucke der obigen Ausgabe der Lettere sulla pit- tura. Et perchè il padre so che é molto virtuoso et é mio af- fezionato et così il figliuolo discreto e gentile giovane, per ogni rispetto lo amo sommamente etc. — In dieſer Lesart überzeugt mich das: so che é, keinesweges; es iſt eben ſo gezwungen, als unrichtig; das so, nach der Analogie damaligen Brief- und Converſationsſtyles, iſt ſicher nichts anderes, als: suo; die Stelle aber, wo der Abſchreiber che é geleſen, wenn Pungileoni’s Angaben richtig ſind, nothwendig irgend ein praeteritum; das zweite é offenbar eingeſchoben. Einem wenig ge- übten Leſer der Schriftarten jener Zeit konnte die Abbreviatur: sta0, d. i. stato, leicht als: che, erſcheinen. Die Einſchiebung dieſes che macht aber den ganzen Satz verworren und falſch. Allem Anſehn nach hat alſo die Herzogin geſchrieben: Et perché il padre suo stato é molto virtuoso et mio affezionato, et così il figliuolo (sendo) discreto e gentile giovane etc. Denn unter allen Umſtänden iſt nach figliuolo das Zeitwort ausgefallen, ſey es in der Abſchrift, oder ſchon im Originale durch ein Verſehen, welches nicht ohne Beyſpiel iſt. — Die Abſchrift,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831/70
Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831/70>, abgerufen am 23.11.2024.