jung geworden zu sein: denn sie stehen über und über in Blüthen und Knospen und senden, von einem Heer goldgrüner Käfer umschwärmt, ganze Wolken von Wohlgeruch in die heiße zitternde Luft. In den Beeten blüht es gelb, blau und roth; Lilien haben ihre weißen Kelche erschlossen, und dabei blitzt und funkelt der goldene Sonnenschein mit den wunderbarsten Lichtern und Reflexen auf dem Rasen und in dem üppigen Grün der Wipfel, daß Einem vor seliger Sommerfreude das Herz im Leibe lacht. Was aber dem Allem den letzten, ab¬ schließenden Zauber verleiht: das ist ein holdes Wesen, das nun, halb Frau, halb Jungfrau, fast täglich im Garten er¬ scheint und sich inmitten des traumhaften Blühens und Leuch¬ tens wie eine Märchengestalt ausnimmt. Du lächelst, Lieber? Ach, lies nur weiter und sieh, welch' ein seltsamer Zustand die Seele Deines Freundes überkommen hat. --
Pfingsten, das Weihefest des Sommers, war herangerückt. Tags zuvor hatte ich mich nach Tisch länger als sonst in mei¬ ner Stube verweilt; um es nur zu gestehen: ich war über dem Werke eines neu aufgetauchten Poeten ein wenig einge¬ dämmert. Als ich später hinabging und den Hof durchschritt, klang mir aus dem Garten eine fremde weibliche Stimme ent¬ gegen. Behutsam näherte ich mich dem Gitter und blickte durch das dichte Laubwerk hinein. Welch' ein lieblicher Anblick bot sich mir dar! Auf dem mittleren Rasenplatze, unter dem alten Apfelbaume, stand ein schlankes jugendliches Frauenbild und wiegte
jung geworden zu ſein: denn ſie ſtehen über und über in Blüthen und Knoſpen und ſenden, von einem Heer goldgrüner Käfer umſchwärmt, ganze Wolken von Wohlgeruch in die heiße zitternde Luft. In den Beeten blüht es gelb, blau und roth; Lilien haben ihre weißen Kelche erſchloſſen, und dabei blitzt und funkelt der goldene Sonnenſchein mit den wunderbarſten Lichtern und Reflexen auf dem Raſen und in dem üppigen Grün der Wipfel, daß Einem vor ſeliger Sommerfreude das Herz im Leibe lacht. Was aber dem Allem den letzten, ab¬ ſchließenden Zauber verleiht: das iſt ein holdes Weſen, das nun, halb Frau, halb Jungfrau, faſt täglich im Garten er¬ ſcheint und ſich inmitten des traumhaften Blühens und Leuch¬ tens wie eine Märchengeſtalt ausnimmt. Du lächelſt, Lieber? Ach, lies nur weiter und ſieh, welch' ein ſeltſamer Zuſtand die Seele Deines Freundes überkommen hat. —
Pfingſten, das Weihefeſt des Sommers, war herangerückt. Tags zuvor hatte ich mich nach Tiſch länger als ſonſt in mei¬ ner Stube verweilt; um es nur zu geſtehen: ich war über dem Werke eines neu aufgetauchten Poeten ein wenig einge¬ dämmert. Als ich ſpäter hinabging und den Hof durchſchritt, klang mir aus dem Garten eine fremde weibliche Stimme ent¬ gegen. Behutſam näherte ich mich dem Gitter und blickte durch das dichte Laubwerk hinein. Welch' ein lieblicher Anblick bot ſich mir dar! Auf dem mittleren Raſenplatze, unter dem alten Apfelbaume, ſtand ein ſchlankes jugendliches Frauenbild und wiegte
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jung geworden zu ſein: denn ſie ſtehen über und über in
Blüthen und Knoſpen und ſenden, von einem Heer goldgrüner
Käfer umſchwärmt, ganze Wolken von Wohlgeruch in die heiße
zitternde Luft. In den Beeten blüht es gelb, blau und roth;
Lilien haben ihre weißen Kelche erſchloſſen, und dabei blitzt
und funkelt der goldene Sonnenſchein mit den wunderbarſten
Lichtern und Reflexen auf dem Raſen und in dem üppigen
Grün der Wipfel, daß Einem vor ſeliger Sommerfreude das
Herz im Leibe lacht. Was aber dem Allem den letzten, ab¬
ſchließenden Zauber verleiht: das iſt ein holdes Weſen, das
nun, halb Frau, halb Jungfrau, faſt täglich im Garten er¬
ſcheint und ſich inmitten des traumhaften Blühens und Leuch¬
tens wie eine Märchengeſtalt ausnimmt. Du lächelſt, Lieber?
Ach, lies nur weiter und ſieh, welch' ein ſeltſamer Zuſtand
die Seele Deines Freundes überkommen hat. —
Pfingſten, das Weihefeſt des Sommers, war herangerückt.
Tags zuvor hatte ich mich nach Tiſch länger als ſonſt in mei¬
ner Stube verweilt; um es nur zu geſtehen: ich war über
dem Werke eines neu aufgetauchten Poeten ein wenig einge¬
dämmert. Als ich ſpäter hinabging und den Hof durchſchritt,
klang mir aus dem Garten eine fremde weibliche Stimme ent¬
gegen. Behutſam näherte ich mich dem Gitter und blickte durch
das dichte Laubwerk hinein. Welch' ein lieblicher Anblick bot
ſich mir dar! Auf dem mittleren Raſenplatze, unter dem alten
Apfelbaume, ſtand ein ſchlankes jugendliches Frauenbild und wiegte
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Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/103>, abgerufen am 24.11.2024.
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