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Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877.

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den elektrischen Drähten niederließen, bereits ihre Nester ge¬
klebt hatten.

Eines Nachmittags, es war Sonntag, saß vor einer sol¬
chen Hütte, welche sich, etwas abseits von der Bahn, mit ihrer
Rückwand an schroffe Felsen lehnte, eine weibliche Gestalt
auf der Schwelle. Sie war baarfuß, hatte um das Hinter¬
haupt ein grobes dunkles Tuch gebunden, und das Antlitz,
das daraus hervorsah, war welk und von jener bräunlich fah¬
len Hautfarbe, welche der Sonnenbrand in blassen Gesichtern
zu erzeugen pflegt. Die Stirne wies tiefe Furchen auf, und
um den Mund lag ein Zug öder Traurigkeit, was die Sitzende
älter erscheinen ließ, als sie sein mochte, und die verkümmerte
Mädchenhaftigkeit ihres Leibes seltsam hervor hob. Die Sonne
stand nicht mehr hoch; über die meisten Kuppen und Abhänge
hatten sich bereits dunkle, schweigende Schatten gelagert. Aber
auf dem Wiesengrunde vor der Hütte und in den Wipfeln
des seitwärts ansteigenden Waldes blitzte und funkelte noch der
helle Strahl, in welchem sich eine Schaar von Faltern, Bienen
und Libellen über bunten Blumenkelchen tummelte. Die Ein¬
same jedoch achtete nicht der lieblichen Sommerpracht, die sich
vor ihr ausbreitete, sondern hielt den Blick unverwandt auf
eine schadhafte Männerjacke gerichtet, mit deren Wiederherstel¬
lung sie eifrig beschäftigt war. Diese Arbeit schien ihr recht
sauer zu werden; denn ihre rauhe, schwielige Hand, welche
die Nadel mühsam und ungelenk führte, hatte wohl sonst nur

den elektriſchen Drähten niederließen, bereits ihre Neſter ge¬
klebt hatten.

Eines Nachmittags, es war Sonntag, ſaß vor einer ſol¬
chen Hütte, welche ſich, etwas abſeits von der Bahn, mit ihrer
Rückwand an ſchroffe Felſen lehnte, eine weibliche Geſtalt
auf der Schwelle. Sie war baarfuß, hatte um das Hinter¬
haupt ein grobes dunkles Tuch gebunden, und das Antlitz,
das daraus hervorſah, war welk und von jener bräunlich fah¬
len Hautfarbe, welche der Sonnenbrand in blaſſen Geſichtern
zu erzeugen pflegt. Die Stirne wies tiefe Furchen auf, und
um den Mund lag ein Zug öder Traurigkeit, was die Sitzende
älter erſcheinen ließ, als ſie ſein mochte, und die verkümmerte
Mädchenhaftigkeit ihres Leibes ſeltſam hervor hob. Die Sonne
ſtand nicht mehr hoch; über die meiſten Kuppen und Abhänge
hatten ſich bereits dunkle, ſchweigende Schatten gelagert. Aber
auf dem Wieſengrunde vor der Hütte und in den Wipfeln
des ſeitwärts anſteigenden Waldes blitzte und funkelte noch der
helle Strahl, in welchem ſich eine Schaar von Faltern, Bienen
und Libellen über bunten Blumenkelchen tummelte. Die Ein¬
ſame jedoch achtete nicht der lieblichen Sommerpracht, die ſich
vor ihr ausbreitete, ſondern hielt den Blick unverwandt auf
eine ſchadhafte Männerjacke gerichtet, mit deren Wiederherſtel¬
lung ſie eifrig beſchäftigt war. Dieſe Arbeit ſchien ihr recht
ſauer zu werden; denn ihre rauhe, ſchwielige Hand, welche
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[130/0146] den elektriſchen Drähten niederließen, bereits ihre Neſter ge¬ klebt hatten. Eines Nachmittags, es war Sonntag, ſaß vor einer ſol¬ chen Hütte, welche ſich, etwas abſeits von der Bahn, mit ihrer Rückwand an ſchroffe Felſen lehnte, eine weibliche Geſtalt auf der Schwelle. Sie war baarfuß, hatte um das Hinter¬ haupt ein grobes dunkles Tuch gebunden, und das Antlitz, das daraus hervorſah, war welk und von jener bräunlich fah¬ len Hautfarbe, welche der Sonnenbrand in blaſſen Geſichtern zu erzeugen pflegt. Die Stirne wies tiefe Furchen auf, und um den Mund lag ein Zug öder Traurigkeit, was die Sitzende älter erſcheinen ließ, als ſie ſein mochte, und die verkümmerte Mädchenhaftigkeit ihres Leibes ſeltſam hervor hob. Die Sonne ſtand nicht mehr hoch; über die meiſten Kuppen und Abhänge hatten ſich bereits dunkle, ſchweigende Schatten gelagert. Aber auf dem Wieſengrunde vor der Hütte und in den Wipfeln des ſeitwärts anſteigenden Waldes blitzte und funkelte noch der helle Strahl, in welchem ſich eine Schaar von Faltern, Bienen und Libellen über bunten Blumenkelchen tummelte. Die Ein¬ ſame jedoch achtete nicht der lieblichen Sommerpracht, die ſich vor ihr ausbreitete, ſondern hielt den Blick unverwandt auf eine ſchadhafte Männerjacke gerichtet, mit deren Wiederherſtel¬ lung ſie eifrig beſchäftigt war. Dieſe Arbeit ſchien ihr recht ſauer zu werden; denn ihre rauhe, ſchwielige Hand, welche die Nadel mühſam und ungelenk führte, hatte wohl ſonſt nur

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Zitationshilfe: Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/146>, abgerufen am 14.05.2024.