Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877.Warum war sie nicht so klug und brav wie ihre Schwester Er war bei diesen Worten aufgestanden und reichte mir jetzt 16*
Warum war ſie nicht ſo klug und brav wie ihre Schweſter Er war bei dieſen Worten aufgeſtanden und reichte mir jetzt 16*
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0259" n="243"/> Warum war ſie nicht ſo klug und brav wie ihre Schweſter<lb/> Anna, die nun eine glückliche Gattin und Mutter iſt? Warum<lb/> war ſie nicht ſo klug und ſchlecht wie ihre Schweſter Mimi,<lb/> die gegenwärtig als Chanſonettenſängerin die Welt durchreiſt<lb/> und mit Gold und Diamanten überſchüttet wird? <hi rendition="#g">Warum</hi>!<lb/> Das iſt die große Frage, auf welche weder unſere Philoſophen<lb/> und Moraliſten, noch die ſtelzbeinigen Theaterfiguren unſerer<lb/> modernen Dramatiker eine Antwort zu geben wiſſen — und<lb/> die ſelbſt dann nicht gelöſt ſein wird, wenn die Phyſiologen<lb/> jeden Gedanken, jedes Wort, jede That auf die entſprechende<lb/> Faſer des Gehirns, auf dieſen oder jenen zuckenden Nerv und<lb/> auf die mehr oder minder vollkommene Funktion eines beſtimm¬<lb/> ten Organs zurückzuführen im Stande ſein werden. Dann<lb/> aber, wenn man erkennen wird, daß der Menſch nichts anderes<lb/> iſt, als eine Miſchung geheimnißvoll wirkender Atome, die ihm<lb/> ſchon im Keime ſein Schickſal vorausbeſtimmen: dann wird<lb/> man, glaube ich, auch dahinter gekommen ſein, daß es, trotz<lb/> aller geiſtigen Errungenſchaften, beſſer iſt, nicht zu leben! —“</p><lb/> <p>Er war bei dieſen Worten aufgeſtanden und reichte mir jetzt<lb/> die Hand zum Abſchied. Ich ging. Draußen ſchwieg die ausge¬<lb/> dehnte Reſidenz in tiefem Schlafe. Die Gasflammen waren ſchon<lb/> zur Hälfte ausgelöſcht; düſtere Schatten umhüllten die Häuſer<lb/> und nur hier und dort ſchimmerte durch ein Fenſter mattes Licht.<lb/> Wie viele Herzen mochten in dieſer Stille voll Kummer und Ver¬<lb/> <fw place="bottom" type="sig">16*<lb/></fw> </p> </div> </body> </text> </TEI> [243/0259]
Warum war ſie nicht ſo klug und brav wie ihre Schweſter
Anna, die nun eine glückliche Gattin und Mutter iſt? Warum
war ſie nicht ſo klug und ſchlecht wie ihre Schweſter Mimi,
die gegenwärtig als Chanſonettenſängerin die Welt durchreiſt
und mit Gold und Diamanten überſchüttet wird? Warum!
Das iſt die große Frage, auf welche weder unſere Philoſophen
und Moraliſten, noch die ſtelzbeinigen Theaterfiguren unſerer
modernen Dramatiker eine Antwort zu geben wiſſen — und
die ſelbſt dann nicht gelöſt ſein wird, wenn die Phyſiologen
jeden Gedanken, jedes Wort, jede That auf die entſprechende
Faſer des Gehirns, auf dieſen oder jenen zuckenden Nerv und
auf die mehr oder minder vollkommene Funktion eines beſtimm¬
ten Organs zurückzuführen im Stande ſein werden. Dann
aber, wenn man erkennen wird, daß der Menſch nichts anderes
iſt, als eine Miſchung geheimnißvoll wirkender Atome, die ihm
ſchon im Keime ſein Schickſal vorausbeſtimmen: dann wird
man, glaube ich, auch dahinter gekommen ſein, daß es, trotz
aller geiſtigen Errungenſchaften, beſſer iſt, nicht zu leben! —“
Er war bei dieſen Worten aufgeſtanden und reichte mir jetzt
die Hand zum Abſchied. Ich ging. Draußen ſchwieg die ausge¬
dehnte Reſidenz in tiefem Schlafe. Die Gasflammen waren ſchon
zur Hälfte ausgelöſcht; düſtere Schatten umhüllten die Häuſer
und nur hier und dort ſchimmerte durch ein Fenſter mattes Licht.
Wie viele Herzen mochten in dieſer Stille voll Kummer und Ver¬
16*
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |