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Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877.

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"Eilen Sie doch nicht so, bester Doctor", sagte mein
Freund; "bleiben Sie noch ein wenig bei uns."

"Geht nicht. Wir haben heute große Visite. Die Oberin
der Schwestern, die hier im Hause den Dienst der Kranken¬
pflege versehen -- und zwar ganz tüchtig, wie ich bekennen
muß. Denn dazu ist vor Allem Disciplin nothwendig, und
diese läßt sich dem geistlichen Völklein nicht absprechen. Schwei¬
gen und gehorchen, das heißt, seinen Vorgesetzten gegenüber,
hat es gelernt. Zudem ist die Oberin eine vortreffliche, ja
geradezu wundervolle Persönlichkeit; sie hat sich schon im
Directionszimmer eingefunden und ich lasse mir das Vergnü¬
gen nicht rauben, mich ihr als Begleiter durch die Krankensäle
anzuschließen. Wissen Sie", fuhr der Doctor nach einer klei¬
nen Pause fort, "wer sie eigentlich ist? Eine Tochter des
alten Erzaristokraten und Finsterlings Reichegg, der ein so
trauriges Andenken hinterlassen hat. Aber auf sie ist das
Sprichwort nicht anwendbar, daß der Apfel nahe zum Stamme
fällt. Keine Spur von Bigotterie oder Unduldsamkeit; eine
ächte Frauenseele, voll Nachsicht und Menschenliebe -- und
jener Frömmigkeit, die Einen bedauern läßt, daß man sie
selbst nicht mehr besitzen kann. Und auch da oben" -- er
deutete mit dem Finger nach der Stirn -- "sieht es sehr
respectabel aus. So Mancher, der sich auf den Gelehrten
hinaus spielt und Bücher schreibt, müßte sich vor ihr verkrie¬
chen. Schade, ewig schade, daß sie Nonne geworden. Es

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„Eilen Sie doch nicht ſo, beſter Doctor“, ſagte mein
Freund; „bleiben Sie noch ein wenig bei uns.“

„Geht nicht. Wir haben heute große Viſite. Die Oberin
der Schweſtern, die hier im Hauſe den Dienſt der Kranken¬
pflege verſehen — und zwar ganz tüchtig, wie ich bekennen
muß. Denn dazu iſt vor Allem Disciplin nothwendig, und
dieſe läßt ſich dem geiſtlichen Völklein nicht abſprechen. Schwei¬
gen und gehorchen, das heißt, ſeinen Vorgeſetzten gegenüber,
hat es gelernt. Zudem iſt die Oberin eine vortreffliche, ja
geradezu wundervolle Perſönlichkeit; ſie hat ſich ſchon im
Directionszimmer eingefunden und ich laſſe mir das Vergnü¬
gen nicht rauben, mich ihr als Begleiter durch die Krankenſäle
anzuſchließen. Wiſſen Sie“, fuhr der Doctor nach einer klei¬
nen Pauſe fort, „wer ſie eigentlich iſt? Eine Tochter des
alten Erzariſtokraten und Finſterlings Reichegg, der ein ſo
trauriges Andenken hinterlaſſen hat. Aber auf ſie iſt das
Sprichwort nicht anwendbar, daß der Apfel nahe zum Stamme
fällt. Keine Spur von Bigotterie oder Unduldſamkeit; eine
ächte Frauenſeele, voll Nachſicht und Menſchenliebe — und
jener Frömmigkeit, die Einen bedauern läßt, daß man ſie
ſelbſt nicht mehr beſitzen kann. Und auch da oben“ — er
deutete mit dem Finger nach der Stirn — „ſieht es ſehr
reſpectabel aus. So Mancher, der ſich auf den Gelehrten
hinaus ſpielt und Bücher ſchreibt, müßte ſich vor ihr verkrie¬
chen. Schade, ewig ſchade, daß ſie Nonne geworden. Es

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[275/0291] „Eilen Sie doch nicht ſo, beſter Doctor“, ſagte mein Freund; „bleiben Sie noch ein wenig bei uns.“ „Geht nicht. Wir haben heute große Viſite. Die Oberin der Schweſtern, die hier im Hauſe den Dienſt der Kranken¬ pflege verſehen — und zwar ganz tüchtig, wie ich bekennen muß. Denn dazu iſt vor Allem Disciplin nothwendig, und dieſe läßt ſich dem geiſtlichen Völklein nicht abſprechen. Schwei¬ gen und gehorchen, das heißt, ſeinen Vorgeſetzten gegenüber, hat es gelernt. Zudem iſt die Oberin eine vortreffliche, ja geradezu wundervolle Perſönlichkeit; ſie hat ſich ſchon im Directionszimmer eingefunden und ich laſſe mir das Vergnü¬ gen nicht rauben, mich ihr als Begleiter durch die Krankenſäle anzuſchließen. Wiſſen Sie“, fuhr der Doctor nach einer klei¬ nen Pauſe fort, „wer ſie eigentlich iſt? Eine Tochter des alten Erzariſtokraten und Finſterlings Reichegg, der ein ſo trauriges Andenken hinterlaſſen hat. Aber auf ſie iſt das Sprichwort nicht anwendbar, daß der Apfel nahe zum Stamme fällt. Keine Spur von Bigotterie oder Unduldſamkeit; eine ächte Frauenſeele, voll Nachſicht und Menſchenliebe — und jener Frömmigkeit, die Einen bedauern läßt, daß man ſie ſelbſt nicht mehr beſitzen kann. Und auch da oben“ — er deutete mit dem Finger nach der Stirn — „ſieht es ſehr reſpectabel aus. So Mancher, der ſich auf den Gelehrten hinaus ſpielt und Bücher ſchreibt, müßte ſich vor ihr verkrie¬ chen. Schade, ewig ſchade, daß ſie Nonne geworden. Es 18*

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Zitationshilfe: Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/291>, abgerufen am 23.11.2024.