kommt aber daher, weil man seine eigentliche Schönheit mit den Blicken gleichsam erst aus der Tiefe an die Oberfläche saugen muß. Beim ersten Hinsehen erscheint es fast leer und läßt kalt. Solchen, die kein geistiges Auge besitzen, wird es niemals ein rechtes Wohlgefallen abgewinnen. Ich möchte das Original vor mir haben können."
"Der Ausdruck im Gesichte der Madonna ist einzig in seiner Art," erwiderte ich nachdenklich. "Und doch findet man zuweilen Köpfe, besonders bei Frauen im Volke, die mehr oder minder jenen kindlich erhabenen und, wenn ich so sagen darf, rührend unfertigen Zug aufweisen, der uns hier so sehr entzückt. So ist es mir, als hätte ich erst unlängst ein der¬ artiges Gesicht gesehen; ich weiß nur nicht wo."
"Ich weiß es," sagte er. "Hier in der Citadelle."
Nun war ich darauf gebracht. "Richtig!" rief ich aus, "an das junge Weib Ihnen gegenüber hat mich das Bild gemahnt."
"Es freut mich, durch Sie meine eigene Ansicht bestätigt zu finden, die vielleicht eine rein subjective hätte sein können. Denn im Grunde genommen, sind die Züge doch ganz ver¬ schieden, und die Aehnlichkeit liegt wohl nur in dem eigen¬ thümlichen Schnitt und Blick der Augen. Beweis dessen, daß der Zeugwart, als ich ihn einmal vor das Bild führte, an¬ fangs auch nicht die geringste Aehnlichkeit mit seinem Weibe finden wollte, und erst nach und nach, und das nur, wie es
kommt aber daher, weil man ſeine eigentliche Schönheit mit den Blicken gleichſam erſt aus der Tiefe an die Oberfläche ſaugen muß. Beim erſten Hinſehen erſcheint es faſt leer und läßt kalt. Solchen, die kein geiſtiges Auge beſitzen, wird es niemals ein rechtes Wohlgefallen abgewinnen. Ich möchte das Original vor mir haben können.“
„Der Ausdruck im Geſichte der Madonna iſt einzig in ſeiner Art,“ erwiderte ich nachdenklich. „Und doch findet man zuweilen Köpfe, beſonders bei Frauen im Volke, die mehr oder minder jenen kindlich erhabenen und, wenn ich ſo ſagen darf, rührend unfertigen Zug aufweiſen, der uns hier ſo ſehr entzückt. So iſt es mir, als hätte ich erſt unlängſt ein der¬ artiges Geſicht geſehen; ich weiß nur nicht wo.“
„Ich weiß es,“ ſagte er. „Hier in der Citadelle.“
Nun war ich darauf gebracht. „Richtig!“ rief ich aus, „an das junge Weib Ihnen gegenüber hat mich das Bild gemahnt.“
„Es freut mich, durch Sie meine eigene Anſicht beſtätigt zu finden, die vielleicht eine rein ſubjective hätte ſein können. Denn im Grunde genommen, ſind die Züge doch ganz ver¬ ſchieden, und die Aehnlichkeit liegt wohl nur in dem eigen¬ thümlichen Schnitt und Blick der Augen. Beweis deſſen, daß der Zeugwart, als ich ihn einmal vor das Bild führte, an¬ fangs auch nicht die geringſte Aehnlichkeit mit ſeinem Weibe finden wollte, und erſt nach und nach, und das nur, wie es
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[28/0044]
kommt aber daher, weil man ſeine eigentliche Schönheit mit
den Blicken gleichſam erſt aus der Tiefe an die Oberfläche
ſaugen muß. Beim erſten Hinſehen erſcheint es faſt leer und
läßt kalt. Solchen, die kein geiſtiges Auge beſitzen, wird es
niemals ein rechtes Wohlgefallen abgewinnen. Ich möchte das
Original vor mir haben können.“
„Der Ausdruck im Geſichte der Madonna iſt einzig in
ſeiner Art,“ erwiderte ich nachdenklich. „Und doch findet man
zuweilen Köpfe, beſonders bei Frauen im Volke, die mehr
oder minder jenen kindlich erhabenen und, wenn ich ſo ſagen
darf, rührend unfertigen Zug aufweiſen, der uns hier ſo ſehr
entzückt. So iſt es mir, als hätte ich erſt unlängſt ein der¬
artiges Geſicht geſehen; ich weiß nur nicht wo.“
„Ich weiß es,“ ſagte er. „Hier in der Citadelle.“
Nun war ich darauf gebracht. „Richtig!“ rief ich aus,
„an das junge Weib Ihnen gegenüber hat mich das Bild
gemahnt.“
„Es freut mich, durch Sie meine eigene Anſicht beſtätigt
zu finden, die vielleicht eine rein ſubjective hätte ſein können.
Denn im Grunde genommen, ſind die Züge doch ganz ver¬
ſchieden, und die Aehnlichkeit liegt wohl nur in dem eigen¬
thümlichen Schnitt und Blick der Augen. Beweis deſſen, daß
der Zeugwart, als ich ihn einmal vor das Bild führte, an¬
fangs auch nicht die geringſte Aehnlichkeit mit ſeinem Weibe
finden wollte, und erſt nach und nach, und das nur, wie es
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Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/44>, abgerufen am 16.07.2024.
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