Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877.

Bild:
<< vorherige Seite

Als ich am nächsten Sonntage zum ersten Male die
Kanzel bestieg, gewahrte ich sie gleich beim ersten Hinsehen
auf die Menge unter mir. Sie hatte ein blaues, bis an den
Hals hinauf geschlossenes Kleid an, das ihr gar wohl zu den
goldenen, schlichtgescheitelten Haaren ließ. Neben ihr im Bet¬
stuhle saß eine schon ziemlich bejahrte Frau, die man sogleich
für die Mutter erkannte. Während ich predigte, fühlte ich
beständig ihren Blick aus den vielen heraus, die auf mich ge¬
richtet waren, und in dem Bestreben, ihm auszuweichen, und
doch wunderbar davon angezogen, irrte mein Auge scheu um
die liebliche Gestalt herum, ohne daß ich den Muth gehabt
hätte, sie anzusehen. Desto öfter jedoch blickte ich in den Tagen,
die nun folgten, nach dem kleinen Hause hinüber, und bald
paßte ich sogar jeden Morgen den Augenblick ab, wo die
Jungfrau vor der Thüre erschien. So trat ihr Bild unver¬
merkt immer tiefer in mein Leben hinein, und verwuchs da¬
mit, eine holde Nothwendigkeit, wie Luft und Licht. Es fachte
keinen Wunsch in mir an; aber wie an trüben sonnenlosen
Tagen ein dumpfer Druck auf Einem liegt, so überkam mich,
wenn ich sie zur gewohnten Stunde nicht sah, ein geheimes
Mißbehagen, das nicht eher wich, als bis sich die schlanke Ge¬
stalt, wenn auch noch so flüchtig, vor dem Hause, am Fenster
oder im Gärtchen gezeigt hatte. Dann aber war es mir, als
sei es erst jetzt vollends Tag geworden, dessen helles Licht mich
mit sanfter Wärme und Heiterkeit durchströme. --

Als ich am nächſten Sonntage zum erſten Male die
Kanzel beſtieg, gewahrte ich ſie gleich beim erſten Hinſehen
auf die Menge unter mir. Sie hatte ein blaues, bis an den
Hals hinauf geſchloſſenes Kleid an, das ihr gar wohl zu den
goldenen, ſchlichtgeſcheitelten Haaren ließ. Neben ihr im Bet¬
ſtuhle ſaß eine ſchon ziemlich bejahrte Frau, die man ſogleich
für die Mutter erkannte. Während ich predigte, fühlte ich
beſtändig ihren Blick aus den vielen heraus, die auf mich ge¬
richtet waren, und in dem Beſtreben, ihm auszuweichen, und
doch wunderbar davon angezogen, irrte mein Auge ſcheu um
die liebliche Geſtalt herum, ohne daß ich den Muth gehabt
hätte, ſie anzuſehen. Deſto öfter jedoch blickte ich in den Tagen,
die nun folgten, nach dem kleinen Hauſe hinüber, und bald
paßte ich ſogar jeden Morgen den Augenblick ab, wo die
Jungfrau vor der Thüre erſchien. So trat ihr Bild unver¬
merkt immer tiefer in mein Leben hinein, und verwuchs da¬
mit, eine holde Nothwendigkeit, wie Luft und Licht. Es fachte
keinen Wunſch in mir an; aber wie an trüben ſonnenloſen
Tagen ein dumpfer Druck auf Einem liegt, ſo überkam mich,
wenn ich ſie zur gewohnten Stunde nicht ſah, ein geheimes
Mißbehagen, das nicht eher wich, als bis ſich die ſchlanke Ge¬
ſtalt, wenn auch noch ſo flüchtig, vor dem Hauſe, am Fenſter
oder im Gärtchen gezeigt hatte. Dann aber war es mir, als
ſei es erſt jetzt vollends Tag geworden, deſſen helles Licht mich
mit ſanfter Wärme und Heiterkeit durchſtröme. —

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0059" n="43"/>
      <p>Als ich am näch&#x017F;ten Sonntage zum er&#x017F;ten Male die<lb/>
Kanzel be&#x017F;tieg, gewahrte ich &#x017F;ie gleich beim er&#x017F;ten Hin&#x017F;ehen<lb/>
auf die Menge unter mir. Sie hatte ein blaues, bis an den<lb/>
Hals hinauf ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enes Kleid an, das ihr gar wohl zu den<lb/>
goldenen, &#x017F;chlichtge&#x017F;cheitelten Haaren ließ. Neben ihr im Bet¬<lb/>
&#x017F;tuhle &#x017F;aß eine &#x017F;chon ziemlich bejahrte Frau, die man &#x017F;ogleich<lb/>
für die Mutter erkannte. Während ich predigte, fühlte ich<lb/>
be&#x017F;tändig ihren Blick aus den vielen heraus, die auf mich ge¬<lb/>
richtet waren, und in dem Be&#x017F;treben, ihm auszuweichen, und<lb/>
doch wunderbar davon angezogen, irrte mein Auge &#x017F;cheu um<lb/>
die liebliche Ge&#x017F;talt herum, ohne daß ich den Muth gehabt<lb/>
hätte, &#x017F;ie anzu&#x017F;ehen. De&#x017F;to öfter jedoch blickte ich in den Tagen,<lb/>
die nun folgten, nach dem kleinen Hau&#x017F;e hinüber, und bald<lb/>
paßte ich &#x017F;ogar jeden Morgen den Augenblick ab, wo die<lb/>
Jungfrau vor der Thüre er&#x017F;chien. So trat ihr Bild unver¬<lb/>
merkt immer tiefer in mein Leben hinein, und verwuchs da¬<lb/>
mit, eine holde Nothwendigkeit, wie Luft und Licht. Es fachte<lb/>
keinen Wun&#x017F;ch in mir an; aber wie an trüben &#x017F;onnenlo&#x017F;en<lb/>
Tagen ein dumpfer Druck auf Einem liegt, &#x017F;o überkam mich,<lb/>
wenn ich &#x017F;ie zur gewohnten Stunde nicht &#x017F;ah, ein geheimes<lb/>
Mißbehagen, das nicht eher wich, als bis &#x017F;ich die &#x017F;chlanke Ge¬<lb/>
&#x017F;talt, wenn auch noch &#x017F;o flüchtig, vor dem Hau&#x017F;e, am Fen&#x017F;ter<lb/>
oder im Gärtchen gezeigt hatte. Dann aber war es mir, als<lb/>
&#x017F;ei es er&#x017F;t jetzt vollends Tag geworden, de&#x017F;&#x017F;en helles Licht mich<lb/>
mit &#x017F;anfter Wärme und Heiterkeit durch&#x017F;tröme. &#x2014;</p><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[43/0059] Als ich am nächſten Sonntage zum erſten Male die Kanzel beſtieg, gewahrte ich ſie gleich beim erſten Hinſehen auf die Menge unter mir. Sie hatte ein blaues, bis an den Hals hinauf geſchloſſenes Kleid an, das ihr gar wohl zu den goldenen, ſchlichtgeſcheitelten Haaren ließ. Neben ihr im Bet¬ ſtuhle ſaß eine ſchon ziemlich bejahrte Frau, die man ſogleich für die Mutter erkannte. Während ich predigte, fühlte ich beſtändig ihren Blick aus den vielen heraus, die auf mich ge¬ richtet waren, und in dem Beſtreben, ihm auszuweichen, und doch wunderbar davon angezogen, irrte mein Auge ſcheu um die liebliche Geſtalt herum, ohne daß ich den Muth gehabt hätte, ſie anzuſehen. Deſto öfter jedoch blickte ich in den Tagen, die nun folgten, nach dem kleinen Hauſe hinüber, und bald paßte ich ſogar jeden Morgen den Augenblick ab, wo die Jungfrau vor der Thüre erſchien. So trat ihr Bild unver¬ merkt immer tiefer in mein Leben hinein, und verwuchs da¬ mit, eine holde Nothwendigkeit, wie Luft und Licht. Es fachte keinen Wunſch in mir an; aber wie an trüben ſonnenloſen Tagen ein dumpfer Druck auf Einem liegt, ſo überkam mich, wenn ich ſie zur gewohnten Stunde nicht ſah, ein geheimes Mißbehagen, das nicht eher wich, als bis ſich die ſchlanke Ge¬ ſtalt, wenn auch noch ſo flüchtig, vor dem Hauſe, am Fenſter oder im Gärtchen gezeigt hatte. Dann aber war es mir, als ſei es erſt jetzt vollends Tag geworden, deſſen helles Licht mich mit ſanfter Wärme und Heiterkeit durchſtröme. —

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/59
Zitationshilfe: Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/59>, abgerufen am 14.05.2024.