Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875.Die künstlichen Systeme und die Nomenclatur neue Begriffe und neue Theorieen zu gewinnen, denn diese stehenein für allemal fest; die Erfahrung muß sich dem fertigen Ge- dankensystem fügen; was sich nicht fügt, wird dialectisch so lange gedreht und gedeutet, bis es scheinbar in das Ganze hineinpaßt. Die geistige Arbeit auf diesem Standpunkte besteht ganz wesent- lich in diesem Drehen und Wenden der Thatsachen, denn die ganze Weltanschauung selbst ist fertig und braucht nicht geändert zu werden. Erfahrung in dem höheren Sinne der Naturforschung wird dadurch unmöglich gemacht, daß man die letzten Gründe der Dinge sämmtlich zu kennen glaubt; diese letzten Gründe und Principien der Scholastik aber sind im Grunde nur Worte mit äußerst unbestimmter Bedeutung, ihr Sinn besteht in Abstractionen, die aus der alltäglichen, nicht wissenschaftlich geläuterten, daher schlechten Erfahrung sprungweise abgeleitet sind; und je weiter die Abstraction getrieben ist, je weiter sie sich von der Hand der Erfahrung entfernt, desto ehrwürdiger und wichtiger erscheinen diese Abstracta, über welche man sich schließlich, jedoch wieder nur durch Bilder und Metaphern gegenseitig verständigen kann 1). Die Wissenschaft nach scholastischer Methode ist ein Spiel mit abstracten Begriffen, der beste Spieler der, welcher dieselben untereinander so zu verbinden weiß, daß die vorhandenen Wider- sprüche geschickt verdeckt werden. Wogegen die echte Forschung, sei es philosophische oder naturwissenschaftliche, gerade darauf aus- geht, etwa vorhandene Widersprüche schonungslos aufzudecken und die Thatsachen so lange zu befragen, bis unsere Begriffe sich berichtigen und wenn es nöthig ist, die ganze Theorie, die ganze Weltanschauung durch eine bessere ersetzt wird. In der aristotelischen Philosophie und Scholastik sind die Thatsachen blos Beispiele zur Erläuterung feststehender abstracter Begriffe für die Naturforschung dagegen der fruchtbare Boden, aus wel- chem beständig neue Vorstellungen, Gedankenverbindungen, Theorieen 1) Man vergleiche die ausgezeichnete Darstellung der platonischen und
aristotelischen Philosophie und der Scholastik in Albert Lange's Geschichte des Materialismus II. Auflage 1874. Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur neue Begriffe und neue Theorieen zu gewinnen, denn dieſe ſtehenein für allemal feſt; die Erfahrung muß ſich dem fertigen Ge- dankenſyſtem fügen; was ſich nicht fügt, wird dialectiſch ſo lange gedreht und gedeutet, bis es ſcheinbar in das Ganze hineinpaßt. Die geiſtige Arbeit auf dieſem Standpunkte beſteht ganz weſent- lich in dieſem Drehen und Wenden der Thatſachen, denn die ganze Weltanſchauung ſelbſt iſt fertig und braucht nicht geändert zu werden. Erfahrung in dem höheren Sinne der Naturforſchung wird dadurch unmöglich gemacht, daß man die letzten Gründe der Dinge ſämmtlich zu kennen glaubt; dieſe letzten Gründe und Principien der Scholaſtik aber ſind im Grunde nur Worte mit äußerſt unbeſtimmter Bedeutung, ihr Sinn beſteht in Abſtractionen, die aus der alltäglichen, nicht wiſſenſchaftlich geläuterten, daher ſchlechten Erfahrung ſprungweiſe abgeleitet ſind; und je weiter die Abſtraction getrieben iſt, je weiter ſie ſich von der Hand der Erfahrung entfernt, deſto ehrwürdiger und wichtiger erſcheinen dieſe Abſtracta, über welche man ſich ſchließlich, jedoch wieder nur durch Bilder und Metaphern gegenſeitig verſtändigen kann 1). Die Wiſſenſchaft nach ſcholaſtiſcher Methode iſt ein Spiel mit abſtracten Begriffen, der beſte Spieler der, welcher dieſelben untereinander ſo zu verbinden weiß, daß die vorhandenen Wider- ſprüche geſchickt verdeckt werden. Wogegen die echte Forſchung, ſei es philoſophiſche oder naturwiſſenſchaftliche, gerade darauf aus- geht, etwa vorhandene Widerſprüche ſchonungslos aufzudecken und die Thatſachen ſo lange zu befragen, bis unſere Begriffe ſich berichtigen und wenn es nöthig iſt, die ganze Theorie, die ganze Weltanſchauung durch eine beſſere erſetzt wird. In der ariſtoteliſchen Philoſophie und Scholaſtik ſind die Thatſachen blos Beiſpiele zur Erläuterung feſtſtehender abſtracter Begriffe für die Naturforſchung dagegen der fruchtbare Boden, aus wel- chem beſtändig neue Vorſtellungen, Gedankenverbindungen, Theorieen 1) Man vergleiche die ausgezeichnete Darſtellung der platoniſchen und
ariſtoteliſchen Philoſophie und der Scholaſtik in Albert Lange's Geſchichte des Materialismus II. Auflage 1874. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0104" n="92"/><fw place="top" type="header">Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur</fw><lb/> neue Begriffe und neue Theorieen zu gewinnen, denn dieſe ſtehen<lb/> ein für allemal feſt; die Erfahrung muß ſich dem fertigen Ge-<lb/> dankenſyſtem fügen; was ſich nicht fügt, wird dialectiſch ſo lange<lb/> gedreht und gedeutet, bis es ſcheinbar in das Ganze hineinpaßt.<lb/> Die geiſtige Arbeit auf dieſem Standpunkte beſteht ganz weſent-<lb/> lich in dieſem Drehen und Wenden der Thatſachen, denn die<lb/> ganze Weltanſchauung ſelbſt iſt fertig und braucht nicht geändert<lb/> zu werden. Erfahrung in dem höheren Sinne der Naturforſchung<lb/> wird dadurch unmöglich gemacht, daß man die letzten Gründe<lb/> der Dinge ſämmtlich zu kennen glaubt; dieſe letzten Gründe und<lb/> Principien der Scholaſtik aber ſind im Grunde nur Worte mit<lb/> äußerſt unbeſtimmter Bedeutung, ihr Sinn beſteht in Abſtractionen,<lb/> die aus der alltäglichen, nicht wiſſenſchaftlich geläuterten, daher<lb/> ſchlechten Erfahrung ſprungweiſe abgeleitet ſind; und je weiter<lb/> die Abſtraction getrieben iſt, je weiter ſie ſich von der Hand der<lb/> Erfahrung entfernt, deſto ehrwürdiger und wichtiger erſcheinen<lb/> dieſe Abſtracta, über welche man ſich ſchließlich, jedoch wieder<lb/> nur durch Bilder und Metaphern gegenſeitig verſtändigen kann <note place="foot" n="1)">Man vergleiche die ausgezeichnete Darſtellung der platoniſchen und<lb/> ariſtoteliſchen Philoſophie und der Scholaſtik in Albert <hi rendition="#g">Lange</hi>'s Geſchichte<lb/> des Materialismus <hi rendition="#aq">II.</hi> Auflage 1874.</note>.<lb/> Die Wiſſenſchaft nach ſcholaſtiſcher Methode iſt ein Spiel mit<lb/> abſtracten Begriffen, der beſte Spieler der, welcher dieſelben<lb/> untereinander ſo zu verbinden weiß, daß die vorhandenen Wider-<lb/> ſprüche geſchickt verdeckt werden. Wogegen die echte Forſchung,<lb/> ſei es philoſophiſche oder naturwiſſenſchaftliche, gerade darauf aus-<lb/> geht, etwa vorhandene Widerſprüche ſchonungslos aufzudecken<lb/> und die Thatſachen ſo lange zu befragen, bis unſere Begriffe<lb/> ſich berichtigen und wenn es nöthig iſt, die ganze Theorie, die<lb/> ganze Weltanſchauung durch eine beſſere erſetzt wird. In der<lb/> ariſtoteliſchen Philoſophie und Scholaſtik ſind die Thatſachen<lb/> blos Beiſpiele zur Erläuterung feſtſtehender abſtracter Begriffe<lb/> für die Naturforſchung dagegen der fruchtbare Boden, aus wel-<lb/> chem beſtändig neue Vorſtellungen, Gedankenverbindungen, Theorieen<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [92/0104]
Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
neue Begriffe und neue Theorieen zu gewinnen, denn dieſe ſtehen
ein für allemal feſt; die Erfahrung muß ſich dem fertigen Ge-
dankenſyſtem fügen; was ſich nicht fügt, wird dialectiſch ſo lange
gedreht und gedeutet, bis es ſcheinbar in das Ganze hineinpaßt.
Die geiſtige Arbeit auf dieſem Standpunkte beſteht ganz weſent-
lich in dieſem Drehen und Wenden der Thatſachen, denn die
ganze Weltanſchauung ſelbſt iſt fertig und braucht nicht geändert
zu werden. Erfahrung in dem höheren Sinne der Naturforſchung
wird dadurch unmöglich gemacht, daß man die letzten Gründe
der Dinge ſämmtlich zu kennen glaubt; dieſe letzten Gründe und
Principien der Scholaſtik aber ſind im Grunde nur Worte mit
äußerſt unbeſtimmter Bedeutung, ihr Sinn beſteht in Abſtractionen,
die aus der alltäglichen, nicht wiſſenſchaftlich geläuterten, daher
ſchlechten Erfahrung ſprungweiſe abgeleitet ſind; und je weiter
die Abſtraction getrieben iſt, je weiter ſie ſich von der Hand der
Erfahrung entfernt, deſto ehrwürdiger und wichtiger erſcheinen
dieſe Abſtracta, über welche man ſich ſchließlich, jedoch wieder
nur durch Bilder und Metaphern gegenſeitig verſtändigen kann 1).
Die Wiſſenſchaft nach ſcholaſtiſcher Methode iſt ein Spiel mit
abſtracten Begriffen, der beſte Spieler der, welcher dieſelben
untereinander ſo zu verbinden weiß, daß die vorhandenen Wider-
ſprüche geſchickt verdeckt werden. Wogegen die echte Forſchung,
ſei es philoſophiſche oder naturwiſſenſchaftliche, gerade darauf aus-
geht, etwa vorhandene Widerſprüche ſchonungslos aufzudecken
und die Thatſachen ſo lange zu befragen, bis unſere Begriffe
ſich berichtigen und wenn es nöthig iſt, die ganze Theorie, die
ganze Weltanſchauung durch eine beſſere erſetzt wird. In der
ariſtoteliſchen Philoſophie und Scholaſtik ſind die Thatſachen
blos Beiſpiele zur Erläuterung feſtſtehender abſtracter Begriffe
für die Naturforſchung dagegen der fruchtbare Boden, aus wel-
chem beſtändig neue Vorſtellungen, Gedankenverbindungen, Theorieen
1) Man vergleiche die ausgezeichnete Darſtellung der platoniſchen und
ariſtoteliſchen Philoſophie und der Scholaſtik in Albert Lange's Geſchichte
des Materialismus II. Auflage 1874.
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