scheidung der äußeren Organe der Blatt- und Stengelformen und wie mißlich es trotzdem noch um die Unterscheidung der kleineren Blüthen- und Fruchttheile aussah, wurde bereits im ersten Buch hervorgehoben.
Durch die Erfindung des Mikroskops wurde das Auge nicht bloß befähigt, kleine Dinge groß, das unsichtbar Kleine überhaupt zu sehen; vielmehr war mit dem Gebrauch der Vergrößerungs- gläser noch ein ganz anderer Vortheil verbunden; man lernte über- haupt erst wissenschaftlich und genau sehen; indem man das Auge mit einem Vergrößerungsglas bewaffnete, concentrirte sich die Auf- merksamkeit auf bestimmte Puncte des Objectes; das Gesehene war zum Theil undeutlich und immer nur ein kleiner Theil des ganzen Objects; der Wahrnehmung des Sehnerven mußte sich ein absichtliches und intensives Nachdenken beigesellen, um das mit dem Vergrößerungsglas stückweise beobachtete Object auch dem geistigen Auge in seinem innern Zusammenhange klar zu machen; so wurde erst durch die Bewaffnung mit dem Mikroskop das Auge sebst zu einem wissenschaftlichen Instrument, welches nicht mehr mit leichtsinniger Bewegung über die Objecte hineilt, sondern von dem Verstand des Beobachters in strenge Zucht ge- nommen und zu methodischer Arbeit angehalten wurde. Schon der Philosoph Christian Wolff machte (1721) die sehr richtige Bemerkung, daß man das, was man einmal mit dem Mikroskop gesehen hat, dann auch häufig mit dem unbewaffneten Auge unterscheiden könne und diese von jedem Mikroskopiker ge- machte Erfahrung beweist hinlänglich die gewissermaßen erziehende und dressirende Wirkung, welche das Mikroskop auf das Auge ausübt. Diese merkwürdige Thatsache tritt auch in anderer Weise noch hervor; wir sahen in der Geschichte der Systematik und Morphologie, daß die Botaniker über hundert Jahre lang die ganz offen daliegenden äußeren Formverhältnisse der Pflanzen kaum wissenschaftlich zu beherrschen, von allgemeineren Gesichts- puncten aus zu betrachten suchten; erst Jungius wandte ein geregeltes Nachdenken auf die dem Auge ganz offen daliegenden morphologischen Verhältnisse der Pflanzen und erst spät in unserem
Einleitung.
ſcheidung der äußeren Organe der Blatt- und Stengelformen und wie mißlich es trotzdem noch um die Unterſcheidung der kleineren Blüthen- und Fruchttheile ausſah, wurde bereits im erſten Buch hervorgehoben.
Durch die Erfindung des Mikroſkops wurde das Auge nicht bloß befähigt, kleine Dinge groß, das unſichtbar Kleine überhaupt zu ſehen; vielmehr war mit dem Gebrauch der Vergrößerungs- gläſer noch ein ganz anderer Vortheil verbunden; man lernte über- haupt erſt wiſſenſchaftlich und genau ſehen; indem man das Auge mit einem Vergrößerungsglas bewaffnete, concentrirte ſich die Auf- merkſamkeit auf beſtimmte Puncte des Objectes; das Geſehene war zum Theil undeutlich und immer nur ein kleiner Theil des ganzen Objects; der Wahrnehmung des Sehnerven mußte ſich ein abſichtliches und intenſives Nachdenken beigeſellen, um das mit dem Vergrößerungsglas ſtückweiſe beobachtete Object auch dem geiſtigen Auge in ſeinem innern Zuſammenhange klar zu machen; ſo wurde erſt durch die Bewaffnung mit dem Mikroſkop das Auge ſebſt zu einem wiſſenſchaftlichen Inſtrument, welches nicht mehr mit leichtſinniger Bewegung über die Objecte hineilt, ſondern von dem Verſtand des Beobachters in ſtrenge Zucht ge- nommen und zu methodiſcher Arbeit angehalten wurde. Schon der Philoſoph Chriſtian Wolff machte (1721) die ſehr richtige Bemerkung, daß man das, was man einmal mit dem Mikroſkop geſehen hat, dann auch häufig mit dem unbewaffneten Auge unterſcheiden könne und dieſe von jedem Mikroſkopiker ge- machte Erfahrung beweiſt hinlänglich die gewiſſermaßen erziehende und dreſſirende Wirkung, welche das Mikroſkop auf das Auge ausübt. Dieſe merkwürdige Thatſache tritt auch in anderer Weiſe noch hervor; wir ſahen in der Geſchichte der Syſtematik und Morphologie, daß die Botaniker über hundert Jahre lang die ganz offen daliegenden äußeren Formverhältniſſe der Pflanzen kaum wiſſenſchaftlich zu beherrſchen, von allgemeineren Geſichts- puncten aus zu betrachten ſuchten; erſt Jungius wandte ein geregeltes Nachdenken auf die dem Auge ganz offen daliegenden morphologiſchen Verhältniſſe der Pflanzen und erſt ſpät in unſerem
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Einleitung.
ſcheidung der äußeren Organe der Blatt- und Stengelformen
und wie mißlich es trotzdem noch um die Unterſcheidung der
kleineren Blüthen- und Fruchttheile ausſah, wurde bereits im
erſten Buch hervorgehoben.
Durch die Erfindung des Mikroſkops wurde das Auge nicht
bloß befähigt, kleine Dinge groß, das unſichtbar Kleine überhaupt
zu ſehen; vielmehr war mit dem Gebrauch der Vergrößerungs-
gläſer noch ein ganz anderer Vortheil verbunden; man lernte über-
haupt erſt wiſſenſchaftlich und genau ſehen; indem man das Auge
mit einem Vergrößerungsglas bewaffnete, concentrirte ſich die Auf-
merkſamkeit auf beſtimmte Puncte des Objectes; das Geſehene war
zum Theil undeutlich und immer nur ein kleiner Theil des
ganzen Objects; der Wahrnehmung des Sehnerven mußte ſich
ein abſichtliches und intenſives Nachdenken beigeſellen, um das
mit dem Vergrößerungsglas ſtückweiſe beobachtete Object auch
dem geiſtigen Auge in ſeinem innern Zuſammenhange klar zu
machen; ſo wurde erſt durch die Bewaffnung mit dem Mikroſkop
das Auge ſebſt zu einem wiſſenſchaftlichen Inſtrument, welches
nicht mehr mit leichtſinniger Bewegung über die Objecte hineilt,
ſondern von dem Verſtand des Beobachters in ſtrenge Zucht ge-
nommen und zu methodiſcher Arbeit angehalten wurde. Schon
der Philoſoph Chriſtian Wolff machte (1721) die ſehr
richtige Bemerkung, daß man das, was man einmal mit dem
Mikroſkop geſehen hat, dann auch häufig mit dem unbewaffneten
Auge unterſcheiden könne und dieſe von jedem Mikroſkopiker ge-
machte Erfahrung beweiſt hinlänglich die gewiſſermaßen erziehende
und dreſſirende Wirkung, welche das Mikroſkop auf das Auge
ausübt. Dieſe merkwürdige Thatſache tritt auch in anderer
Weiſe noch hervor; wir ſahen in der Geſchichte der Syſtematik
und Morphologie, daß die Botaniker über hundert Jahre lang
die ganz offen daliegenden äußeren Formverhältniſſe der Pflanzen
kaum wiſſenſchaftlich zu beherrſchen, von allgemeineren Geſichts-
puncten aus zu betrachten ſuchten; erſt Jungius wandte ein
geregeltes Nachdenken auf die dem Auge ganz offen daliegenden
morphologiſchen Verhältniſſe der Pflanzen und erſt ſpät in unſerem
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Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/249>, abgerufen am 21.11.2024.
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