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Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791.

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legem. Denn die Fülle des Gesetzes ist die Liebe, und
die Liebe wird in unserm Innern nicht durch das Gesetz
ausgegossen, sondern durch den heiligen Geist.

Den praktischen Beweis dieser tröstlichen Wahr-
heit haben alle Edle aller Zeiten dadurch gegeben,
dass sie zu Gott um die Tugend, als die erste Gabe,
gebeten, und für dieselbe, als für die erste Gabe, ge-
dankt haben
.

Und gerade hier zeigt sich die christliche Mo-
ral von ihrer schönsten und wohlthätigsten Seite. Sie
fodert nicht zu viel, wenn sie eine Liebe gegen Gott
fodert, die ihm das ganze Herz weiht; denn sie baut
auf die Verheissung einer göttlichen Kraft, die diese
göttliche Liebe schafft.

Diese göttliche Kraft ist denn auch der Triumph
des Christenthums über Fleisch und Blut, und alle
Kräfte, die sich gegen die reine Tugend empören.
Jesus ist kein Professor, der nur das Bessere kennen
lehrt, kein blosser Tugendfreund, der nur das Bessere in
seinem Wandel vorzeigt; Er ist der Erretter unseres
Geschlechtes, der das Herz umändert, und die heilige
Liebe
des Guten, und des Alleinguten, seines Vaters
in uns entzündet.

Seine Worte sind Geist und Leben. Und wer
die christliche Sittenlehre ohne diese göttliche Kraft,
die Geister bessert und neuschafft, für Christenthum
hält, der hält den todten Leib ohne belebenden Geist
für einen lebendigen Menschen. Und so lange sich die
menschliche Vernunft weigert, an diese göttliche

Kraft
D 5

legem. Denn die Fülle des Geſetzes iſt die Liebe, und
die Liebe wird in unſerm Innern nicht durch das Geſetz
ausgegoſſen, ſondern durch den heiligen Geiſt.

Den praktiſchen Beweis dieſer tröſtlichen Wahr-
heit haben alle Edle aller Zeiten dadurch gegeben,
daſs ſie zu Gott um die Tugend, als die erſte Gabe,
gebeten, und für dieſelbe, als für die erſte Gabe, ge-
dankt haben
.

Und gerade hier zeigt ſich die chriſtliche Mo-
ral von ihrer ſchönſten und wohlthätigſten Seite. Sie
fodert nicht zu viel, wenn ſie eine Liebe gegen Gott
fodert, die ihm das ganze Herz weiht; denn ſie baut
auf die Verheiſſung einer göttlichen Kraft, die dieſe
göttliche Liebe ſchafft.

Dieſe göttliche Kraft iſt denn auch der Triumph
des Chriſtenthums über Fleiſch und Blut, und alle
Kräfte, die ſich gegen die reine Tugend empören.
Jeſus iſt kein Profeſſor, der nur das Beſſere kennen
lehrt, kein bloſſer Tugendfreund, der nur das Beſſere in
ſeinem Wandel vorzeigt; Er iſt der Erretter unſeres
Geſchlechtes, der das Herz umändert, und die heilige
Liebe
des Guten, und des Alleinguten, ſeines Vaters
in uns entzündet.

Seine Worte ſind Geiſt und Leben. Und wer
die chriſtliche Sittenlehre ohne dieſe göttliche Kraft,
die Geiſter beſſert und neuſchafft, für Chriſtenthum
hält, der hält den todten Leib ohne belebenden Geiſt
für einen lebendigen Menſchen. Und ſo lange ſich die
menſchliche Vernunft weigert, an dieſe göttliche

Kraft
D 5
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[57/0071] legem. Denn die Fülle des Geſetzes iſt die Liebe, und die Liebe wird in unſerm Innern nicht durch das Geſetz ausgegoſſen, ſondern durch den heiligen Geiſt. Den praktiſchen Beweis dieſer tröſtlichen Wahr- heit haben alle Edle aller Zeiten dadurch gegeben, daſs ſie zu Gott um die Tugend, als die erſte Gabe, gebeten, und für dieſelbe, als für die erſte Gabe, ge- dankt haben. Und gerade hier zeigt ſich die chriſtliche Mo- ral von ihrer ſchönſten und wohlthätigſten Seite. Sie fodert nicht zu viel, wenn ſie eine Liebe gegen Gott fodert, die ihm das ganze Herz weiht; denn ſie baut auf die Verheiſſung einer göttlichen Kraft, die dieſe göttliche Liebe ſchafft. Dieſe göttliche Kraft iſt denn auch der Triumph des Chriſtenthums über Fleiſch und Blut, und alle Kräfte, die ſich gegen die reine Tugend empören. Jeſus iſt kein Profeſſor, der nur das Beſſere kennen lehrt, kein bloſſer Tugendfreund, der nur das Beſſere in ſeinem Wandel vorzeigt; Er iſt der Erretter unſeres Geſchlechtes, der das Herz umändert, und die heilige Liebe des Guten, und des Alleinguten, ſeines Vaters in uns entzündet. Seine Worte ſind Geiſt und Leben. Und wer die chriſtliche Sittenlehre ohne dieſe göttliche Kraft, die Geiſter beſſert und neuſchafft, für Chriſtenthum hält, der hält den todten Leib ohne belebenden Geiſt für einen lebendigen Menſchen. Und ſo lange ſich die menſchliche Vernunft weigert, an dieſe göttliche Kraft D 5

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_prediger_1791/71>, abgerufen am 21.11.2024.