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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

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Dritter Abschnitt.

So sage ich dir nicht: löse die Schein-
gründe wider den Selbstmord auf,
son-
dern: glaube mir's, daß alle Scheingrün-
de der Mühe des Auflösens
(wenigstens
für dich) unwerth sind. In diesem, und
in jedem ähnlichen Falle ist das Unphiloso-
phische, ipse dixit, erste Philosophie. Denn
die einer Versuchung zum Selbstmorde fä-
hig sind, können nicht anders geleitet wer-
den, als wie Kinder und Kranke -- durch
den Glauben an das Mutterwort, und an
die Befehle des Arztes.


Lies also keine Schrift, die dem Selbst-
morde das Wort redet, denn sie ist, wenn
sie die beste ist -- eine schöne Schale, wor-
inn überzuckert Gift präsentirt wird. Lies
nicht einmal die Biographien der Selbst-
mörder, sie mögen so gut, oder so schlecht
geschrieben seyn, als man will: Denn die-
ses Lesen bringt uns den Gegenstand, der
uns nie zu ferne bleiben kann, unvermerkt
zu nahe. Annalen der Diebsleute würden
unter Dürftigen manche Diebstäle veranlas-

sen,
Dritter Abſchnitt.

So ſage ich dir nicht: loͤſe die Schein-
gruͤnde wider den Selbſtmord auf,
ſon-
dern: glaube mir’s, daß alle Scheingruͤn-
de der Muͤhe des Aufloͤſens
(wenigſtens
fuͤr dich) unwerth ſind. In dieſem, und
in jedem aͤhnlichen Falle iſt das Unphiloſo-
phiſche, ipſe dixit, erſte Philoſophie. Denn
die einer Verſuchung zum Selbſtmorde faͤ-
hig ſind, koͤnnen nicht anders geleitet wer-
den, als wie Kinder und Kranke — durch
den Glauben an das Mutterwort, und an
die Befehle des Arztes.


Lies alſo keine Schrift, die dem Selbſt-
morde das Wort redet, denn ſie iſt, wenn
ſie die beſte iſt — eine ſchoͤne Schale, wor-
inn uͤberzuckert Gift praͤſentirt wird. Lies
nicht einmal die Biographien der Selbſt-
moͤrder, ſie moͤgen ſo gut, oder ſo ſchlecht
geſchrieben ſeyn, als man will: Denn die-
ſes Leſen bringt uns den Gegenſtand, der
uns nie zu ferne bleiben kann, unvermerkt
zu nahe. Annalen der Diebsleute wuͤrden
unter Duͤrftigen manche Diebſtaͤle veranlaſ-

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[144/0156] Dritter Abſchnitt. So ſage ich dir nicht: loͤſe die Schein- gruͤnde wider den Selbſtmord auf, ſon- dern: glaube mir’s, daß alle Scheingruͤn- de der Muͤhe des Aufloͤſens (wenigſtens fuͤr dich) unwerth ſind. In dieſem, und in jedem aͤhnlichen Falle iſt das Unphiloſo- phiſche, ipſe dixit, erſte Philoſophie. Denn die einer Verſuchung zum Selbſtmorde faͤ- hig ſind, koͤnnen nicht anders geleitet wer- den, als wie Kinder und Kranke — durch den Glauben an das Mutterwort, und an die Befehle des Arztes. Lies alſo keine Schrift, die dem Selbſt- morde das Wort redet, denn ſie iſt, wenn ſie die beſte iſt — eine ſchoͤne Schale, wor- inn uͤberzuckert Gift praͤſentirt wird. Lies nicht einmal die Biographien der Selbſt- moͤrder, ſie moͤgen ſo gut, oder ſo ſchlecht geſchrieben ſeyn, als man will: Denn die- ſes Leſen bringt uns den Gegenſtand, der uns nie zu ferne bleiben kann, unvermerkt zu nahe. Annalen der Diebsleute wuͤrden unter Duͤrftigen manche Diebſtaͤle veranlaſ- ſen,

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/156>, abgerufen am 21.11.2024.