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Samter, Heinrich: Das Reich der Erfindungen. Berlin, 1896.

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Frühere Ansichten über die elektrische Kraftübertragung.
Spannung der für die Kraftübertragung bestimmten Elektrizität. Denn
es ist offenbar nicht gleichgültig, ob ein Strom, der nur 100 Volt
Spannung besitzt, diese 100 Volt verliert, oder ob ein auf 1000 Volt
gespannter Strom 100 Volt abgiebt. Der erstere behält gar keine
Kraft übrig, der letztere hat nur ein Zehntel derselben eingebüßt.
Beides hat offenbare Nachteile. Drähte von genügender Stärke, welche
schwache Ströme ohne bedeutenden Spannungsverlust leiten, sind
natürlich teuer, hochgespannte Elektrizität aber ist lebensgefährlich für
jeden, der sich dem Leiter nähert, denn die Elektrizität wird dann
selbst durch eine gewisse Weite in der Luft sich auszugleichen suchen
und dem menschlichen Körper verderblich werden. Der letzte schwer-
wiegende Umstand hatte Siemens veranlaßt, in dem obigen Beispiele
einen Strom von nur 200 Volt Spannung anzunehmen und demselben
einen Verlust von 60 % der mitgeteilten Leistungsfähigkeit zu gestatten.
Aber bereits auf der Münchener Ausstellung 1882 gelang es Marcel
Deprez zwei leergehende Dreschmaschinen durch eine Wasserkraft zu
treiben, die in einer Entfernung von 5 Kilometern sich zunächst auf
die primäre Dynamomaschine übertrug und, von dieser in Elektrizität
umgesetzt, durch Kupferdrähte der sekundären Maschine zugeleitet ward.
Nachts diente der Strom, um am Glaspalaste und dem Königsplatze
elektrische Lampen zu speisen. Ebenso gelang es Deprez drei Pferde-
stärken durch ein paar gewöhnliche eiserne Telegraphendrähte auf Ent-
fernungen bis zu 40 Kilometern fortzuleiten. Freilich gingen in dem
schlechten Leiter nicht weniger als 68 % von der Arbeitsfähigkeit der
Maschine verloren; aber es war nicht mehr verlangt. Die Spannung
der Ströme hatte die Höhe von 2000 Volt. So verlor Siemens' Idee
das Phantastische, das ihr zuerst anzuhaften schien, und auch die eines
Mannes, wie des berühmten Physikers Sir William Thomson, welcher
1879 durch Rechnungen feststellte, daß durch einen Kupferdraht von
nur 12 mm Durchmesser 2100 Pferdestärken auf eine Entfernung von
500 Kilometern mit einer Stromspannung von 80,000 Volt übertragen
werden könnten, wurde jetzt nicht mehr belächelt. Vielleicht kommt einst
der Tag, wo man solche Elektrizität mit einer Schlagweite von 36 Zenti-
metern durch die Luft in Drähten übertragen wird.

Die hohen Kosten eines starken Drahtes ließen die Elektrotechnik nicht
weiter gehen in den Versuchen schwach gespannte Elektrizität zu über-
tragen. Thomson selbst hatte in dieser Beziehung ein praktisches Gesetz
ausgesprochen, welches offenbar von Deprez in seinen Versuchen noch
nicht beachtet war. Wir können uns leicht eine Vorstellung von diesem
Gesetze verschaffen. Die Kosten einer Pferdestärke darf man bei nicht zu
hohen Kohlenpreisen und einer großen Dampfmaschine auf 10 Pfennige für
die Stunde, also 1 Mark an einem zehnstündigen Arbeitstage, d. h. im
Jahre auf 300 Mark veranschlagen. Werden durch eine Leitung etwa
200 Pferdestärke übertragen, so macht das eine jährliche Ausgabe von
60,000 Mark. Mehr als diesen Betrag dürfen demnach auch die

Frühere Anſichten über die elektriſche Kraftübertragung.
Spannung der für die Kraftübertragung beſtimmten Elektrizität. Denn
es iſt offenbar nicht gleichgültig, ob ein Strom, der nur 100 Volt
Spannung beſitzt, dieſe 100 Volt verliert, oder ob ein auf 1000 Volt
geſpannter Strom 100 Volt abgiebt. Der erſtere behält gar keine
Kraft übrig, der letztere hat nur ein Zehntel derſelben eingebüßt.
Beides hat offenbare Nachteile. Drähte von genügender Stärke, welche
ſchwache Ströme ohne bedeutenden Spannungsverluſt leiten, ſind
natürlich teuer, hochgeſpannte Elektrizität aber iſt lebensgefährlich für
jeden, der ſich dem Leiter nähert, denn die Elektrizität wird dann
ſelbſt durch eine gewiſſe Weite in der Luft ſich auszugleichen ſuchen
und dem menſchlichen Körper verderblich werden. Der letzte ſchwer-
wiegende Umſtand hatte Siemens veranlaßt, in dem obigen Beiſpiele
einen Strom von nur 200 Volt Spannung anzunehmen und demſelben
einen Verluſt von 60 % der mitgeteilten Leiſtungsfähigkeit zu geſtatten.
Aber bereits auf der Münchener Ausſtellung 1882 gelang es Marcel
Deprez zwei leergehende Dreſchmaſchinen durch eine Waſſerkraft zu
treiben, die in einer Entfernung von 5 Kilometern ſich zunächſt auf
die primäre Dynamomaſchine übertrug und, von dieſer in Elektrizität
umgeſetzt, durch Kupferdrähte der ſekundären Maſchine zugeleitet ward.
Nachts diente der Strom, um am Glaspalaſte und dem Königsplatze
elektriſche Lampen zu ſpeiſen. Ebenſo gelang es Deprez drei Pferde-
ſtärken durch ein paar gewöhnliche eiſerne Telegraphendrähte auf Ent-
fernungen bis zu 40 Kilometern fortzuleiten. Freilich gingen in dem
ſchlechten Leiter nicht weniger als 68 % von der Arbeitsfähigkeit der
Maſchine verloren; aber es war nicht mehr verlangt. Die Spannung
der Ströme hatte die Höhe von 2000 Volt. So verlor Siemens’ Idee
das Phantaſtiſche, das ihr zuerſt anzuhaften ſchien, und auch die eines
Mannes, wie des berühmten Phyſikers Sir William Thomſon, welcher
1879 durch Rechnungen feſtſtellte, daß durch einen Kupferdraht von
nur 12 mm Durchmeſſer 2100 Pferdeſtärken auf eine Entfernung von
500 Kilometern mit einer Stromſpannung von 80,000 Volt übertragen
werden könnten, wurde jetzt nicht mehr belächelt. Vielleicht kommt einſt
der Tag, wo man ſolche Elektrizität mit einer Schlagweite von 36 Zenti-
metern durch die Luft in Drähten übertragen wird.

Die hohen Koſten eines ſtarken Drahtes ließen die Elektrotechnik nicht
weiter gehen in den Verſuchen ſchwach geſpannte Elektrizität zu über-
tragen. Thomſon ſelbſt hatte in dieſer Beziehung ein praktiſches Geſetz
ausgeſprochen, welches offenbar von Deprez in ſeinen Verſuchen noch
nicht beachtet war. Wir können uns leicht eine Vorſtellung von dieſem
Geſetze verſchaffen. Die Koſten einer Pferdeſtärke darf man bei nicht zu
hohen Kohlenpreiſen und einer großen Dampfmaſchine auf 10 Pfennige für
die Stunde, alſo 1 Mark an einem zehnſtündigen Arbeitstage, d. h. im
Jahre auf 300 Mark veranſchlagen. Werden durch eine Leitung etwa
200 Pferdeſtärke übertragen, ſo macht das eine jährliche Ausgabe von
60,000 Mark. Mehr als dieſen Betrag dürfen demnach auch die

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[191/0209] Frühere Anſichten über die elektriſche Kraftübertragung. Spannung der für die Kraftübertragung beſtimmten Elektrizität. Denn es iſt offenbar nicht gleichgültig, ob ein Strom, der nur 100 Volt Spannung beſitzt, dieſe 100 Volt verliert, oder ob ein auf 1000 Volt geſpannter Strom 100 Volt abgiebt. Der erſtere behält gar keine Kraft übrig, der letztere hat nur ein Zehntel derſelben eingebüßt. Beides hat offenbare Nachteile. Drähte von genügender Stärke, welche ſchwache Ströme ohne bedeutenden Spannungsverluſt leiten, ſind natürlich teuer, hochgeſpannte Elektrizität aber iſt lebensgefährlich für jeden, der ſich dem Leiter nähert, denn die Elektrizität wird dann ſelbſt durch eine gewiſſe Weite in der Luft ſich auszugleichen ſuchen und dem menſchlichen Körper verderblich werden. Der letzte ſchwer- wiegende Umſtand hatte Siemens veranlaßt, in dem obigen Beiſpiele einen Strom von nur 200 Volt Spannung anzunehmen und demſelben einen Verluſt von 60 % der mitgeteilten Leiſtungsfähigkeit zu geſtatten. Aber bereits auf der Münchener Ausſtellung 1882 gelang es Marcel Deprez zwei leergehende Dreſchmaſchinen durch eine Waſſerkraft zu treiben, die in einer Entfernung von 5 Kilometern ſich zunächſt auf die primäre Dynamomaſchine übertrug und, von dieſer in Elektrizität umgeſetzt, durch Kupferdrähte der ſekundären Maſchine zugeleitet ward. Nachts diente der Strom, um am Glaspalaſte und dem Königsplatze elektriſche Lampen zu ſpeiſen. Ebenſo gelang es Deprez drei Pferde- ſtärken durch ein paar gewöhnliche eiſerne Telegraphendrähte auf Ent- fernungen bis zu 40 Kilometern fortzuleiten. Freilich gingen in dem ſchlechten Leiter nicht weniger als 68 % von der Arbeitsfähigkeit der Maſchine verloren; aber es war nicht mehr verlangt. Die Spannung der Ströme hatte die Höhe von 2000 Volt. So verlor Siemens’ Idee das Phantaſtiſche, das ihr zuerſt anzuhaften ſchien, und auch die eines Mannes, wie des berühmten Phyſikers Sir William Thomſon, welcher 1879 durch Rechnungen feſtſtellte, daß durch einen Kupferdraht von nur 12 mm Durchmeſſer 2100 Pferdeſtärken auf eine Entfernung von 500 Kilometern mit einer Stromſpannung von 80,000 Volt übertragen werden könnten, wurde jetzt nicht mehr belächelt. Vielleicht kommt einſt der Tag, wo man ſolche Elektrizität mit einer Schlagweite von 36 Zenti- metern durch die Luft in Drähten übertragen wird. Die hohen Koſten eines ſtarken Drahtes ließen die Elektrotechnik nicht weiter gehen in den Verſuchen ſchwach geſpannte Elektrizität zu über- tragen. Thomſon ſelbſt hatte in dieſer Beziehung ein praktiſches Geſetz ausgeſprochen, welches offenbar von Deprez in ſeinen Verſuchen noch nicht beachtet war. Wir können uns leicht eine Vorſtellung von dieſem Geſetze verſchaffen. Die Koſten einer Pferdeſtärke darf man bei nicht zu hohen Kohlenpreiſen und einer großen Dampfmaſchine auf 10 Pfennige für die Stunde, alſo 1 Mark an einem zehnſtündigen Arbeitstage, d. h. im Jahre auf 300 Mark veranſchlagen. Werden durch eine Leitung etwa 200 Pferdeſtärke übertragen, ſo macht das eine jährliche Ausgabe von 60,000 Mark. Mehr als dieſen Betrag dürfen demnach auch die

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Zitationshilfe: Samter, Heinrich: Das Reich der Erfindungen. Berlin, 1896, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/samter_erfindungen_1896/209>, abgerufen am 25.11.2024.