Wenn der Satz, daß die Not der Erfindungen Mutter ist, zu irgend einer Zeit Geltung gehabt hat, so war dies offenbar in der Kindheit des Menschengeschlechtes. Wenn der Urmensch vor dem Wüten ent- fesselter Elemente Schutz suchend, in der Haut der erlegten Jagdbeute die seinige barg, so ward er zum Erfinder der Kleidung, wenn er die Zweige und Stämme der Bäume aus der gleichen Not zum wohn- lichen Obdach verband, so hatte er die Wohnung erfunden. Beides erhob ihn keineswegs über die Stufe des Tieres. Wir begegnen im Tierreiche manchem Wesen, das durch seinen geschickten Wohnungsbau und durch die Fähigkeit, sich mit einer künstlich zusammengefügten Hülle zu umgeben, die ersten Menschen offenbar übertraf. Jene hervorragende Stellung unter den lebenden Wesen erringt derselbe erst durch das Hinzutreten einer Vielfachheit von anderen Fähigkeiten.
"Im Fleiß kann dich die Biene meistern, In der Geschicklichkeit ein Wurm Dein Lehrer sein, Dein Wissen teilest Du mit höheren Geistern, Die Kunst, o Mensch, hast Du allein."
Es ist jene Mannigfaltigkeit des Könnens, welche jede einzelne Kunstfertigkeit des Menschen einschließt, die ihm die oberste Stufe im Range der lebenden Wesen sicherte. Jede Tierspezies besitzt eben höchstens zwei oder drei in ganz bestimmter Richtung wirksame Fertig- keiten, der Mensch besitzt deren so viele und in so verschiedener Weise variierbare, daß er als alleinige Spezies eine Vielheit von Baustilen und von Moden zu erzeugen wußte. In diesen Namen fassen wir die höchsten Staffeln zusammen, denen der Erfindungstrieb seit den Tagen der Urzeit zustrebte. Lang war der Weg zu diesen, und es ist derselbe Weg, den jede Erfindung nehmen muß, die sich im Laufe der Zeiten
III.Die Wohnung.
1. Die Baumaterialien.
Die Bauten aus Holz und natürlichen Steinen.
Wenn der Satz, daß die Not der Erfindungen Mutter iſt, zu irgend einer Zeit Geltung gehabt hat, ſo war dies offenbar in der Kindheit des Menſchengeſchlechtes. Wenn der Urmenſch vor dem Wüten ent- feſſelter Elemente Schutz ſuchend, in der Haut der erlegten Jagdbeute die ſeinige barg, ſo ward er zum Erfinder der Kleidung, wenn er die Zweige und Stämme der Bäume aus der gleichen Not zum wohn- lichen Obdach verband, ſo hatte er die Wohnung erfunden. Beides erhob ihn keineswegs über die Stufe des Tieres. Wir begegnen im Tierreiche manchem Weſen, das durch ſeinen geſchickten Wohnungsbau und durch die Fähigkeit, ſich mit einer künſtlich zuſammengefügten Hülle zu umgeben, die erſten Menſchen offenbar übertraf. Jene hervorragende Stellung unter den lebenden Weſen erringt derſelbe erſt durch das Hinzutreten einer Vielfachheit von anderen Fähigkeiten.
„Im Fleiß kann dich die Biene meiſtern, In der Geſchicklichkeit ein Wurm Dein Lehrer ſein, Dein Wiſſen teileſt Du mit höheren Geiſtern, Die Kunſt, o Menſch, haſt Du allein.“
Es iſt jene Mannigfaltigkeit des Könnens, welche jede einzelne Kunſtfertigkeit des Menſchen einſchließt, die ihm die oberſte Stufe im Range der lebenden Weſen ſicherte. Jede Tierſpezies beſitzt eben höchſtens zwei oder drei in ganz beſtimmter Richtung wirkſame Fertig- keiten, der Menſch beſitzt deren ſo viele und in ſo verſchiedener Weiſe variierbare, daß er als alleinige Spezies eine Vielheit von Bauſtilen und von Moden zu erzeugen wußte. In dieſen Namen faſſen wir die höchſten Staffeln zuſammen, denen der Erfindungstrieb ſeit den Tagen der Urzeit zuſtrebte. Lang war der Weg zu dieſen, und es iſt derſelbe Weg, den jede Erfindung nehmen muß, die ſich im Laufe der Zeiten
<TEI><text><body><pbfacs="#f0279"n="[261]"/><divn="1"><head><hirendition="#b"><hirendition="#aq">III.</hi><hirendition="#g">Die Wohnung</hi>.</hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head><hirendition="#b">1. Die Baumaterialien.</hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><head><hirendition="#b">Die Bauten aus Holz und natürlichen Steinen.</hi></head><lb/><p><hirendition="#in">W</hi>enn der Satz, daß die Not der Erfindungen Mutter iſt, zu irgend<lb/>
einer Zeit Geltung gehabt hat, ſo war dies offenbar in der Kindheit<lb/>
des Menſchengeſchlechtes. Wenn der Urmenſch vor dem Wüten ent-<lb/>
feſſelter Elemente Schutz ſuchend, in der Haut der erlegten Jagdbeute<lb/>
die ſeinige barg, ſo ward er zum Erfinder der Kleidung, wenn er die<lb/>
Zweige und Stämme der Bäume aus der gleichen Not zum wohn-<lb/>
lichen Obdach verband, ſo hatte er die Wohnung erfunden. Beides<lb/>
erhob ihn keineswegs über die Stufe des Tieres. Wir begegnen im<lb/>
Tierreiche manchem Weſen, das durch ſeinen geſchickten Wohnungsbau<lb/>
und durch die Fähigkeit, ſich mit einer künſtlich zuſammengefügten Hülle<lb/>
zu umgeben, die erſten Menſchen offenbar übertraf. Jene hervorragende<lb/>
Stellung unter den lebenden Weſen erringt derſelbe erſt durch das<lb/>
Hinzutreten einer Vielfachheit von anderen Fähigkeiten.</p><lb/><lgtype="poem"><l>„Im Fleiß kann dich die Biene meiſtern,</l><lb/><l>In der Geſchicklichkeit ein Wurm Dein Lehrer ſein,</l><lb/><l>Dein Wiſſen teileſt Du mit höheren Geiſtern,</l><lb/><l>Die Kunſt, o Menſch, haſt Du allein.“</l></lg><lb/><p>Es iſt jene Mannigfaltigkeit des Könnens, welche jede einzelne<lb/>
Kunſtfertigkeit des Menſchen einſchließt, die ihm die oberſte Stufe im<lb/>
Range der lebenden Weſen ſicherte. Jede Tierſpezies beſitzt eben<lb/>
höchſtens zwei oder drei in ganz beſtimmter Richtung wirkſame Fertig-<lb/>
keiten, der Menſch beſitzt deren ſo viele und in ſo verſchiedener Weiſe<lb/>
variierbare, daß er als alleinige Spezies eine Vielheit von Bauſtilen<lb/>
und von Moden zu erzeugen wußte. In dieſen Namen faſſen wir die<lb/>
höchſten Staffeln zuſammen, denen der Erfindungstrieb ſeit den Tagen<lb/>
der Urzeit zuſtrebte. Lang war der Weg zu dieſen, und es iſt derſelbe<lb/>
Weg, den jede Erfindung nehmen muß, die ſich im Laufe der Zeiten<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[[261]/0279]
III. Die Wohnung.
1. Die Baumaterialien.
Die Bauten aus Holz und natürlichen Steinen.
Wenn der Satz, daß die Not der Erfindungen Mutter iſt, zu irgend
einer Zeit Geltung gehabt hat, ſo war dies offenbar in der Kindheit
des Menſchengeſchlechtes. Wenn der Urmenſch vor dem Wüten ent-
feſſelter Elemente Schutz ſuchend, in der Haut der erlegten Jagdbeute
die ſeinige barg, ſo ward er zum Erfinder der Kleidung, wenn er die
Zweige und Stämme der Bäume aus der gleichen Not zum wohn-
lichen Obdach verband, ſo hatte er die Wohnung erfunden. Beides
erhob ihn keineswegs über die Stufe des Tieres. Wir begegnen im
Tierreiche manchem Weſen, das durch ſeinen geſchickten Wohnungsbau
und durch die Fähigkeit, ſich mit einer künſtlich zuſammengefügten Hülle
zu umgeben, die erſten Menſchen offenbar übertraf. Jene hervorragende
Stellung unter den lebenden Weſen erringt derſelbe erſt durch das
Hinzutreten einer Vielfachheit von anderen Fähigkeiten.
„Im Fleiß kann dich die Biene meiſtern,
In der Geſchicklichkeit ein Wurm Dein Lehrer ſein,
Dein Wiſſen teileſt Du mit höheren Geiſtern,
Die Kunſt, o Menſch, haſt Du allein.“
Es iſt jene Mannigfaltigkeit des Könnens, welche jede einzelne
Kunſtfertigkeit des Menſchen einſchließt, die ihm die oberſte Stufe im
Range der lebenden Weſen ſicherte. Jede Tierſpezies beſitzt eben
höchſtens zwei oder drei in ganz beſtimmter Richtung wirkſame Fertig-
keiten, der Menſch beſitzt deren ſo viele und in ſo verſchiedener Weiſe
variierbare, daß er als alleinige Spezies eine Vielheit von Bauſtilen
und von Moden zu erzeugen wußte. In dieſen Namen faſſen wir die
höchſten Staffeln zuſammen, denen der Erfindungstrieb ſeit den Tagen
der Urzeit zuſtrebte. Lang war der Weg zu dieſen, und es iſt derſelbe
Weg, den jede Erfindung nehmen muß, die ſich im Laufe der Zeiten
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Samter, Heinrich: Das Reich der Erfindungen. Berlin, 1896, S. [261]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/samter_erfindungen_1896/279>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.