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Samter, Heinrich: Das Reich der Erfindungen. Berlin, 1896.

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Die Teerfarbstoffe.
Abkömmlinge eines bis dahin fast garnicht verwendeten Anteils der Teer-
destillation, welche den Hauptstamm der wertvollen Azofarbstoffe liefern.
Das Naphthalin war bis zur Entdeckung der Azofarbstoffe der lästigste
Bestandteil des Teerdestillats, um so mehr, als es der Menge nach
darin am stärksten vertreten ist. Selbst als Mottenschutzmittel war es
damals noch nicht gebräuchlich. Sobald aber das Naphthalin einmal in
die Farbstoffindustrie eingeführt war, wuchs sein Verbrauch von Tag
zu Tag. Verschwände es heute plötzlich von der Bildfläche, so könnten
dreiviertel aller Teerfarbenfabriken geschlossen werden. Die ersten Azo-
farbstoffe waren zwar schon lange vor 1875 entdeckt worden, es waren
das früher erwähnte Anilingelb und das Bismarckbraun. Aber einer-
seits wußte man nicht, daß es Azofarbstoffe waren, dann aber waren
sie auch auf ganz anderen Wegen erhalten worden, als auf dem für
die eigentlichen Azofarbstoffe typischen. Der erste als solcher darge-
stellte Azofarbstoff war das Chrysoidin, welches 1875 gleichzeitig von
Witt und von Caro entdeckt wurde; es färbt ebenso, wie die zunächst
nach ihm dargestellten Glieder der Gruppe, orange. Der nächste Schritt
vorwärts wurde von Caro und Baum gethan, welche die ersten roten
Azofarben (Echtrot, Ponceau und Bordeaux) entdeckten und in die
Technik einführten.

Eine ganz neue Bedeutung erhielten die Azofarben seit der von
Boettiger 1883 gemachten Erfindung des Kongorots. Dieses bildet
den ersten Körper einer besonderen Gruppe unter den Azofarbstoffen,
welcher die Eigentümlichkeit zukommt, Baumwolle direkt ohne jeden
Zusatz, im Seifenbade zu färben. Alle billigen roten Baumwollstoffe
sind heutzutage mit den Kongofarbstoffen, wie man sie wohl genannt
hat, gefärbt. In neuerer Zeit ist es auch gelungen, blaue, violette,
schwarze, ja selbst grüne Azofarbstoffe darzustellen, so daß man die
ganze Stufenfolge des Regenbogens mit ihnen färben kann, und noch
immer ist kein Ende in den Entdeckungen neuer Azofarben abzusehen,
wenn auch wirklich epochemachende Neuerungen kaum noch zu erwarten
sind. Gegenüber der Ausdehnung, welche die Fabrikation der Azofarb-
stoffe angenommen hat, treten alle später entdeckten Farbstoffklassen
zurück. Indessen befinden sich darunter immerhin einige, welche große
technische Bedeutung besitzen. In erster Linie gehört dazu eine Gruppe
von schwefelhaltigen Farbstoffen, deren wichtigster Repräsentant das
Methylenblau ist. Der erste Körper aus der Reihe der Thionine, wie
man die Gruppe genannt hat (vom griechischen theion -- thion = Schwefel),
wurde von Ch. Lauth dargestellt und führt nach seinem Entdecker den
Namen Lauthsches Violett. Wegen seines hohen Preises hat es keine
technische Anwendung gefunden. Dagegen gelang es Caro 1878 durch
Übertragung der Lauthschen Reaktion auf einen durch ihn, Caro,
zugänglich gemachten Körper, das Amidodimethylanilin, einen pracht-
vollen grünblauen Farbstoff, das Methylenblau, zu gewinnen. Zwar
verursachte dessen Herstellung im Großen bedeutende Schwierigkeiten,

Die Teerfarbſtoffe.
Abkömmlinge eines bis dahin faſt garnicht verwendeten Anteils der Teer-
deſtillation, welche den Hauptſtamm der wertvollen Azofarbſtoffe liefern.
Das Naphthalin war bis zur Entdeckung der Azofarbſtoffe der läſtigſte
Beſtandteil des Teerdeſtillats, um ſo mehr, als es der Menge nach
darin am ſtärkſten vertreten iſt. Selbſt als Mottenſchutzmittel war es
damals noch nicht gebräuchlich. Sobald aber das Naphthalin einmal in
die Farbſtoffinduſtrie eingeführt war, wuchs ſein Verbrauch von Tag
zu Tag. Verſchwände es heute plötzlich von der Bildfläche, ſo könnten
dreiviertel aller Teerfarbenfabriken geſchloſſen werden. Die erſten Azo-
farbſtoffe waren zwar ſchon lange vor 1875 entdeckt worden, es waren
das früher erwähnte Anilingelb und das Bismarckbraun. Aber einer-
ſeits wußte man nicht, daß es Azofarbſtoffe waren, dann aber waren
ſie auch auf ganz anderen Wegen erhalten worden, als auf dem für
die eigentlichen Azofarbſtoffe typiſchen. Der erſte als ſolcher darge-
ſtellte Azofarbſtoff war das Chryſoïdin, welches 1875 gleichzeitig von
Witt und von Caro entdeckt wurde; es färbt ebenſo, wie die zunächſt
nach ihm dargeſtellten Glieder der Gruppe, orange. Der nächſte Schritt
vorwärts wurde von Caro und Baum gethan, welche die erſten roten
Azofarben (Echtrot, Ponceau und Bordeaux) entdeckten und in die
Technik einführten.

Eine ganz neue Bedeutung erhielten die Azofarben ſeit der von
Boettiger 1883 gemachten Erfindung des Kongorots. Dieſes bildet
den erſten Körper einer beſonderen Gruppe unter den Azofarbſtoffen,
welcher die Eigentümlichkeit zukommt, Baumwolle direkt ohne jeden
Zuſatz, im Seifenbade zu färben. Alle billigen roten Baumwollſtoffe
ſind heutzutage mit den Kongofarbſtoffen, wie man ſie wohl genannt
hat, gefärbt. In neuerer Zeit iſt es auch gelungen, blaue, violette,
ſchwarze, ja ſelbſt grüne Azofarbſtoffe darzuſtellen, ſo daß man die
ganze Stufenfolge des Regenbogens mit ihnen färben kann, und noch
immer iſt kein Ende in den Entdeckungen neuer Azofarben abzuſehen,
wenn auch wirklich epochemachende Neuerungen kaum noch zu erwarten
ſind. Gegenüber der Ausdehnung, welche die Fabrikation der Azofarb-
ſtoffe angenommen hat, treten alle ſpäter entdeckten Farbſtoffklaſſen
zurück. Indeſſen befinden ſich darunter immerhin einige, welche große
techniſche Bedeutung beſitzen. In erſter Linie gehört dazu eine Gruppe
von ſchwefelhaltigen Farbſtoffen, deren wichtigſter Repräſentant das
Methylenblau iſt. Der erſte Körper aus der Reihe der Thionine, wie
man die Gruppe genannt hat (vom griechiſchen ϑειον — thion = Schwefel),
wurde von Ch. Lauth dargeſtellt und führt nach ſeinem Entdecker den
Namen Lauthſches Violett. Wegen ſeines hohen Preiſes hat es keine
techniſche Anwendung gefunden. Dagegen gelang es Caro 1878 durch
Übertragung der Lauthſchen Reaktion auf einen durch ihn, Caro,
zugänglich gemachten Körper, das Amidodimethylanilin, einen pracht-
vollen grünblauen Farbſtoff, das Methylenblau, zu gewinnen. Zwar
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[411/0429] Die Teerfarbſtoffe. Abkömmlinge eines bis dahin faſt garnicht verwendeten Anteils der Teer- deſtillation, welche den Hauptſtamm der wertvollen Azofarbſtoffe liefern. Das Naphthalin war bis zur Entdeckung der Azofarbſtoffe der läſtigſte Beſtandteil des Teerdeſtillats, um ſo mehr, als es der Menge nach darin am ſtärkſten vertreten iſt. Selbſt als Mottenſchutzmittel war es damals noch nicht gebräuchlich. Sobald aber das Naphthalin einmal in die Farbſtoffinduſtrie eingeführt war, wuchs ſein Verbrauch von Tag zu Tag. Verſchwände es heute plötzlich von der Bildfläche, ſo könnten dreiviertel aller Teerfarbenfabriken geſchloſſen werden. Die erſten Azo- farbſtoffe waren zwar ſchon lange vor 1875 entdeckt worden, es waren das früher erwähnte Anilingelb und das Bismarckbraun. Aber einer- ſeits wußte man nicht, daß es Azofarbſtoffe waren, dann aber waren ſie auch auf ganz anderen Wegen erhalten worden, als auf dem für die eigentlichen Azofarbſtoffe typiſchen. Der erſte als ſolcher darge- ſtellte Azofarbſtoff war das Chryſoïdin, welches 1875 gleichzeitig von Witt und von Caro entdeckt wurde; es färbt ebenſo, wie die zunächſt nach ihm dargeſtellten Glieder der Gruppe, orange. Der nächſte Schritt vorwärts wurde von Caro und Baum gethan, welche die erſten roten Azofarben (Echtrot, Ponceau und Bordeaux) entdeckten und in die Technik einführten. Eine ganz neue Bedeutung erhielten die Azofarben ſeit der von Boettiger 1883 gemachten Erfindung des Kongorots. Dieſes bildet den erſten Körper einer beſonderen Gruppe unter den Azofarbſtoffen, welcher die Eigentümlichkeit zukommt, Baumwolle direkt ohne jeden Zuſatz, im Seifenbade zu färben. Alle billigen roten Baumwollſtoffe ſind heutzutage mit den Kongofarbſtoffen, wie man ſie wohl genannt hat, gefärbt. In neuerer Zeit iſt es auch gelungen, blaue, violette, ſchwarze, ja ſelbſt grüne Azofarbſtoffe darzuſtellen, ſo daß man die ganze Stufenfolge des Regenbogens mit ihnen färben kann, und noch immer iſt kein Ende in den Entdeckungen neuer Azofarben abzuſehen, wenn auch wirklich epochemachende Neuerungen kaum noch zu erwarten ſind. Gegenüber der Ausdehnung, welche die Fabrikation der Azofarb- ſtoffe angenommen hat, treten alle ſpäter entdeckten Farbſtoffklaſſen zurück. Indeſſen befinden ſich darunter immerhin einige, welche große techniſche Bedeutung beſitzen. In erſter Linie gehört dazu eine Gruppe von ſchwefelhaltigen Farbſtoffen, deren wichtigſter Repräſentant das Methylenblau iſt. Der erſte Körper aus der Reihe der Thionine, wie man die Gruppe genannt hat (vom griechiſchen ϑειον — thion = Schwefel), wurde von Ch. Lauth dargeſtellt und führt nach ſeinem Entdecker den Namen Lauthſches Violett. Wegen ſeines hohen Preiſes hat es keine techniſche Anwendung gefunden. Dagegen gelang es Caro 1878 durch Übertragung der Lauthſchen Reaktion auf einen durch ihn, Caro, zugänglich gemachten Körper, das Amidodimethylanilin, einen pracht- vollen grünblauen Farbſtoff, das Methylenblau, zu gewinnen. Zwar verurſachte deſſen Herſtellung im Großen bedeutende Schwierigkeiten,

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Zitationshilfe: Samter, Heinrich: Das Reich der Erfindungen. Berlin, 1896, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/samter_erfindungen_1896/429>, abgerufen am 22.11.2024.