Da die Stadt so ungeheuer gros ist, und bestän- dig alle mögliche Scenen darbietet; so ist jeder, der lang hier ist, gegen alles, was sonst Schrecken, Mitleiden, Ernsthaftigkeit, oder nur Unruhe erweckt, so gleichgültig, daß ein Fremder alle Augenblicke unwillig wird, über die Frostigkeit der Nation, über die Frivolität, und über den unendlichen Leichtsinn, womit Alles von Allen beurtheilt wird. In der That, man sollte zuweilen meinen, alles Menschengefühl sei erstorben. Dort haut ein Fuhrmann einem andern mit der Peitsche ins Gesicht; dort schmeißt ein Wagen um, und zerschmettert dem einen das Bein, verderbt dem andern das Kleid, wirft dem dritten die Waaren in Koth. Was hört man? Fluchen -- daß einem die Haare zu Berge stehen, Schwören, daß einem in der Seele schauert, Lachen, recht höhnisches, wie Teufel sich freuen übers Unglück des andern, und die mit Kar- min überschmierte Dame sitzt in ihrem Wagen, hat den Hund am Backen, den Stock, das Parapluye, das Riechfläschchen in der Hand, und seufzt nach der Komö- die, wo sie schon hundertmahl gewesen ist. Ein Pferd wird gepeitscht, bis es den Berg hinauf keicht, Feuer- funken sprühen unter den Füssen herum, wie vom glühen- den Eisen unterm Hammer des Schmidts, jetzt stürzts, die menschliche Bestie prügelt es so lange unter den ab- scheulichsten Verwünschungen, bis es wieder aufsteht, und dem nachjagenden Wagen Platz macht. Man findet in der Strasse einen Todten, ala Greve henkt man einen, Kinder werden getreten, überrennt, man bringt einen Kranken auf der Tragbahre, da fährt ein Leichenwagen hin, dort fällt einer, glitscht aus, und die Pferde tram- peln ihn todt. -- Das ist alles einerlei, kein Mensch
bekümmert
S
Bemerkungen.
Da die Stadt ſo ungeheuer gros iſt, und beſtaͤn- dig alle moͤgliche Scenen darbietet; ſo iſt jeder, der lang hier iſt, gegen alles, was ſonſt Schrecken, Mitleiden, Ernſthaftigkeit, oder nur Unruhe erweckt, ſo gleichguͤltig, daß ein Fremder alle Augenblicke unwillig wird, uͤber die Froſtigkeit der Nation, uͤber die Frivolitaͤt, und uͤber den unendlichen Leichtſinn, womit Alles von Allen beurtheilt wird. In der That, man ſollte zuweilen meinen, alles Menſchengefuͤhl ſei erſtorben. Dort haut ein Fuhrmann einem andern mit der Peitſche ins Geſicht; dort ſchmeißt ein Wagen um, und zerſchmettert dem einen das Bein, verderbt dem andern das Kleid, wirft dem dritten die Waaren in Koth. Was hoͤrt man? Fluchen — daß einem die Haare zu Berge ſtehen, Schwoͤren, daß einem in der Seele ſchauert, Lachen, recht hoͤhniſches, wie Teufel ſich freuen uͤbers Ungluͤck des andern, und die mit Kar- min uͤberſchmierte Dame ſitzt in ihrem Wagen, hat den Hund am Backen, den Stock, das Parapluye, das Riechflaͤſchchen in der Hand, und ſeufzt nach der Komoͤ- die, wo ſie ſchon hundertmahl geweſen iſt. Ein Pferd wird gepeitſcht, bis es den Berg hinauf keicht, Feuer- funken ſpruͤhen unter den Fuͤſſen herum, wie vom gluͤhen- den Eiſen unterm Hammer des Schmidts, jetzt ſtuͤrzts, die menſchliche Beſtie pruͤgelt es ſo lange unter den ab- ſcheulichſten Verwuͤnſchungen, bis es wieder aufſteht, und dem nachjagenden Wagen Platz macht. Man findet in der Straſſe einen Todten, àla Greve henkt man einen, Kinder werden getreten, uͤberrennt, man bringt einen Kranken auf der Tragbahre, da faͤhrt ein Leichenwagen hin, dort faͤllt einer, glitſcht aus, und die Pferde tram- peln ihn todt. — Das iſt alles einerlei, kein Menſch
bekuͤmmert
S
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0297"n="273"/><divn="3"><head><hirendition="#fr">Bemerkungen.</hi></head><lb/><p>Da die Stadt ſo <hirendition="#fr">ungeheuer gros</hi> iſt, und beſtaͤn-<lb/>
dig alle moͤgliche Scenen darbietet; ſo iſt jeder, der lang<lb/>
hier iſt, gegen alles, was ſonſt Schrecken, Mitleiden,<lb/>
Ernſthaftigkeit, oder nur Unruhe erweckt, ſo gleichguͤltig,<lb/>
daß ein Fremder alle Augenblicke unwillig wird, uͤber die<lb/>
Froſtigkeit der Nation, uͤber die Frivolitaͤt, und uͤber den<lb/>
unendlichen Leichtſinn, womit Alles von Allen beurtheilt<lb/>
wird. In der That, man ſollte zuweilen meinen, alles<lb/>
Menſchengefuͤhl ſei erſtorben. Dort haut ein Fuhrmann<lb/>
einem andern mit der Peitſche ins Geſicht; dort ſchmeißt<lb/>
ein Wagen um, und zerſchmettert dem einen das Bein,<lb/>
verderbt dem andern das Kleid, wirft dem dritten die<lb/>
Waaren in Koth. Was hoͤrt man? Fluchen — daß<lb/>
einem die Haare zu Berge ſtehen, Schwoͤren, daß einem<lb/>
in der Seele ſchauert, Lachen, recht hoͤhniſches, wie Teufel<lb/>ſich freuen uͤbers Ungluͤck des andern, und die mit Kar-<lb/>
min uͤberſchmierte Dame ſitzt in ihrem Wagen, hat den<lb/>
Hund am Backen, den Stock, das Parapluye, das<lb/>
Riechflaͤſchchen in der Hand, und ſeufzt nach der Komoͤ-<lb/>
die, wo ſie ſchon hundertmahl geweſen iſt. Ein Pferd<lb/>
wird gepeitſcht, bis es den Berg hinauf keicht, Feuer-<lb/>
funken ſpruͤhen unter den Fuͤſſen herum, wie vom gluͤhen-<lb/>
den Eiſen unterm Hammer des Schmidts, jetzt ſtuͤrzts,<lb/>
die menſchliche Beſtie pruͤgelt es ſo lange unter den ab-<lb/>ſcheulichſten Verwuͤnſchungen, bis es wieder aufſteht, und<lb/>
dem nachjagenden Wagen Platz macht. Man findet in<lb/>
der Straſſe einen Todten, <hirendition="#aq">à</hi><hirendition="#fr">la Greve</hi> henkt man einen,<lb/>
Kinder werden getreten, uͤberrennt, man bringt einen<lb/>
Kranken auf der Tragbahre, da faͤhrt ein Leichenwagen<lb/>
hin, dort faͤllt einer, glitſcht aus, und die Pferde tram-<lb/>
peln ihn todt. — Das iſt alles einerlei, kein Menſch<lb/><fwplace="bottom"type="sig">S</fw><fwplace="bottom"type="catch">bekuͤmmert</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[273/0297]
Bemerkungen.
Da die Stadt ſo ungeheuer gros iſt, und beſtaͤn-
dig alle moͤgliche Scenen darbietet; ſo iſt jeder, der lang
hier iſt, gegen alles, was ſonſt Schrecken, Mitleiden,
Ernſthaftigkeit, oder nur Unruhe erweckt, ſo gleichguͤltig,
daß ein Fremder alle Augenblicke unwillig wird, uͤber die
Froſtigkeit der Nation, uͤber die Frivolitaͤt, und uͤber den
unendlichen Leichtſinn, womit Alles von Allen beurtheilt
wird. In der That, man ſollte zuweilen meinen, alles
Menſchengefuͤhl ſei erſtorben. Dort haut ein Fuhrmann
einem andern mit der Peitſche ins Geſicht; dort ſchmeißt
ein Wagen um, und zerſchmettert dem einen das Bein,
verderbt dem andern das Kleid, wirft dem dritten die
Waaren in Koth. Was hoͤrt man? Fluchen — daß
einem die Haare zu Berge ſtehen, Schwoͤren, daß einem
in der Seele ſchauert, Lachen, recht hoͤhniſches, wie Teufel
ſich freuen uͤbers Ungluͤck des andern, und die mit Kar-
min uͤberſchmierte Dame ſitzt in ihrem Wagen, hat den
Hund am Backen, den Stock, das Parapluye, das
Riechflaͤſchchen in der Hand, und ſeufzt nach der Komoͤ-
die, wo ſie ſchon hundertmahl geweſen iſt. Ein Pferd
wird gepeitſcht, bis es den Berg hinauf keicht, Feuer-
funken ſpruͤhen unter den Fuͤſſen herum, wie vom gluͤhen-
den Eiſen unterm Hammer des Schmidts, jetzt ſtuͤrzts,
die menſchliche Beſtie pruͤgelt es ſo lange unter den ab-
ſcheulichſten Verwuͤnſchungen, bis es wieder aufſteht, und
dem nachjagenden Wagen Platz macht. Man findet in
der Straſſe einen Todten, à la Greve henkt man einen,
Kinder werden getreten, uͤberrennt, man bringt einen
Kranken auf der Tragbahre, da faͤhrt ein Leichenwagen
hin, dort faͤllt einer, glitſcht aus, und die Pferde tram-
peln ihn todt. — Das iſt alles einerlei, kein Menſch
bekuͤmmert
S
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird … [mehr]
Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird dessen Reisebeschreibung veröffentlicht. Es handelt sich dabei um ein druckfertiges Manuskript aus dem Nachlass, welches Sanders Vater dem Verleger Friedrich Gotthold Jacobäer zur Verfügung stellte. Nach dem Vorbericht des Herausgebers wurden nur einige wenige Schreibfehler berichtigt (siehe dazu den Vorbericht des Herausgebers des ersten Bandes, Faksimile 0019f.).
Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 1. Leipzig, 1783, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung01_1783/297>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.