Es ist nicht wahr, daß auch niedrige und gemeine Leute in Fraukreich eine Art von Politesse haben, wo- durch sie den deutschen Bedienten übertreffen. Nicht ein- mahl so viel Erziehung haben sie, als Abläder bei uns, z. B. sie kommen in die Stube mit dem Hut aufm Kopf, behalten ihn auch auf. Perukenmacher, Decroteurs, Schuhmacher, Wäscherinnen kommen herein, ohne je- mals Bon jour, bon soir etc. zu sagen, oder die Thüre zuzumachen etc. Das wird man doch in West- phalen nicht finden. -- Dies ist nicht Mikrologie. Will man das Eigne der Nation beurtheilen, so muß man auf Kleinigkeiten gehen und auch gemeine Leute ta- xiren. Man sage auch nicht, daß man in 6. Wochen das nicht sehen kan. -- Ein Fremder, der viel sehen will, kommt in der ganzen Stadt herum, und hat oft in einem Tag mit zwanzigerlei Leuten zu thun. Ueberall muß man sich durch einen Schwarm von Bedienten durchar- beiten, und ihre Polissonerien nicht achten, wenn man zu seinem Zweck kommen will. Und Rousseau selber sagt: "Wer zehn Franzosen gesehen hat, hat sie alle gese- "hen." Sie gleichen einander alle, die Dame trägt den Hund mit in die Kutsche, und wenn das Küchenmädchen auf der Strasse läuft, um etwas zu holen, so bleibt sie stehen, ruft und wartet, bis der theure Hund nachkömmt.
Den 26sten Jun.
Das Regenwetter hörte doch ein wenig auf. Wenn gleich das Wetter weder lieblich noch schön war; besuchte ich doch heute
Mr. Aublet, einen der besten französischen Botani- sten, der das Werk, von dem ich oben geredet, geschrie-
ben
Es iſt nicht wahr, daß auch niedrige und gemeine Leute in Fraukreich eine Art von Politeſſe haben, wo- durch ſie den deutſchen Bedienten uͤbertreffen. Nicht ein- mahl ſo viel Erziehung haben ſie, als Ablaͤder bei uns, z. B. ſie kommen in die Stube mit dem Hut aufm Kopf, behalten ihn auch auf. Perukenmacher, Decroteurs, Schuhmacher, Waͤſcherinnen kommen herein, ohne je- mals Bon jour, bon ſoir etc. zu ſagen, oder die Thuͤre zuzumachen ꝛc. Das wird man doch in Weſt- phalen nicht finden. — Dies iſt nicht Mikrologie. Will man das Eigne der Nation beurtheilen, ſo muß man auf Kleinigkeiten gehen und auch gemeine Leute ta- xiren. Man ſage auch nicht, daß man in 6. Wochen das nicht ſehen kan. — Ein Fremder, der viel ſehen will, kommt in der ganzen Stadt herum, und hat oft in einem Tag mit zwanzigerlei Leuten zu thun. Ueberall muß man ſich durch einen Schwarm von Bedienten durchar- beiten, und ihre Poliſſonerien nicht achten, wenn man zu ſeinem Zweck kommen will. Und Rouſſeau ſelber ſagt: „Wer zehn Franzoſen geſehen hat, hat ſie alle geſe- „hen.“ Sie gleichen einander alle, die Dame traͤgt den Hund mit in die Kutſche, und wenn das Kuͤchenmaͤdchen auf der Straſſe laͤuft, um etwas zu holen, ſo bleibt ſie ſtehen, ruft und wartet, bis der theure Hund nachkoͤmmt.
Den 26ſten Jun.
Das Regenwetter hoͤrte doch ein wenig auf. Wenn gleich das Wetter weder lieblich noch ſchoͤn war; beſuchte ich doch heute
Mr. Aublet, einen der beſten franzoͤſiſchen Botani- ſten, der das Werk, von dem ich oben geredet, geſchrie-
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Es iſt nicht wahr, daß auch niedrige und gemeine
Leute in Fraukreich eine Art von Politeſſe haben, wo-
durch ſie den deutſchen Bedienten uͤbertreffen. Nicht ein-
mahl ſo viel Erziehung haben ſie, als Ablaͤder bei uns,
z. B. ſie kommen in die Stube mit dem Hut aufm Kopf,
behalten ihn auch auf. Perukenmacher, Decroteurs,
Schuhmacher, Waͤſcherinnen kommen herein, ohne je-
mals Bon jour, bon ſoir etc. zu ſagen, oder die
Thuͤre zuzumachen ꝛc. Das wird man doch in Weſt-
phalen nicht finden. — Dies iſt nicht Mikrologie.
Will man das Eigne der Nation beurtheilen, ſo muß
man auf Kleinigkeiten gehen und auch gemeine Leute ta-
xiren. Man ſage auch nicht, daß man in 6. Wochen
das nicht ſehen kan. — Ein Fremder, der viel ſehen will,
kommt in der ganzen Stadt herum, und hat oft in einem
Tag mit zwanzigerlei Leuten zu thun. Ueberall muß
man ſich durch einen Schwarm von Bedienten durchar-
beiten, und ihre Poliſſonerien nicht achten, wenn man
zu ſeinem Zweck kommen will. Und Rouſſeau ſelber
ſagt: „Wer zehn Franzoſen geſehen hat, hat ſie alle geſe-
„hen.“ Sie gleichen einander alle, die Dame traͤgt den
Hund mit in die Kutſche, und wenn das Kuͤchenmaͤdchen
auf der Straſſe laͤuft, um etwas zu holen, ſo bleibt ſie
ſtehen, ruft und wartet, bis der theure Hund nachkoͤmmt.
Den 26ſten Jun.
Das Regenwetter hoͤrte doch ein wenig auf. Wenn
gleich das Wetter weder lieblich noch ſchoͤn war; beſuchte
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird … [mehr]
Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird dessen Reisebeschreibung veröffentlicht. Es handelt sich dabei um ein druckfertiges Manuskript aus dem Nachlass, welches Sanders Vater dem Verleger Friedrich Gotthold Jacobäer zur Verfügung stellte. Nach dem Vorbericht des Herausgebers wurden nur einige wenige Schreibfehler berichtigt (siehe dazu den Vorbericht des Herausgebers des ersten Bandes, Faksimile 0019f.).
Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 1. Leipzig, 1783, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung01_1783/306>, abgerufen am 22.11.2024.
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