ches Stück besser geweiht werden können, als der unglück- lichen Liebe? Man sieht, man fühlt, man wünscht mehr, wenn man nur das Bild sieht, als wenn man den gan- zen Siegwart liest. -- Ist etwas, das in grossen Städten der Erziehung vortheilhaft ist, so ist's gewis der Anblick so vieler und mannichfaltiger Werke der Kunst, die den Geschmack besser schärfen als Regeln; so ge- fährlich freilich auch auf der andern Seite diese Plätze jungen, unverschlossenen, Seelen werden können. Denn neben einer Kreuzigung hängt eine nackte Danae, oder eine badende Susanne, oder eine Venus, unter den Händen der Grazien, wo die Nachahmung der Natur, der Reitz, die Feinheit, und die Verschönerung der Phan- tasie, kurz alles zusammen fließt, das Laster angenehm zu machen.
Le Cabinet de l'Histoire Naturelle du Roi, besuchte ich heute zum erstenmahl. So steht mit goldnen Buchstaben über der einen Thüre. Das, was man den Fremden zeigt, ist in 4 grossen hohen Zimmern an den Wänden überall herum, und zum Theil auch oben an der Decke angebracht. Alles ist in wohlverschlossenen Schränken mit vielen Schubladen und Fächern, Glas- thüren, und französischen Zetteln. Viel Ordnung ist nicht in der Anordnung, es scheint, es fehlt am Platz, oder man hat's noch nicht weiter aus einander bringen wollen. Vieles steht im Schatten, vieles zu niedrig, vieles viel zu hoch. Man kans mit der Lorgnette in der Hand nicht sehen. Wenns aufgemacht wird, welches alle Woche zweimahl geschieht, so fährt und geht immer eine Menge Menschen von allen Geschlechtern, Stand und Alter hinein. Es ist ein Getümmel, wie aufm
Markt.
ches Stuͤck beſſer geweiht werden koͤnnen, als der ungluͤck- lichen Liebe? Man ſieht, man fuͤhlt, man wuͤnſcht mehr, wenn man nur das Bild ſieht, als wenn man den gan- zen Siegwart lieſt. — Iſt etwas, das in groſſen Staͤdten der Erziehung vortheilhaft iſt, ſo iſt’s gewis der Anblick ſo vieler und mannichfaltiger Werke der Kunſt, die den Geſchmack beſſer ſchaͤrfen als Regeln; ſo ge- faͤhrlich freilich auch auf der andern Seite dieſe Plaͤtze jungen, unverſchloſſenen, Seelen werden koͤnnen. Denn neben einer Kreuzigung haͤngt eine nackte Danae, oder eine badende Suſanne, oder eine Venus, unter den Haͤnden der Grazien, wo die Nachahmung der Natur, der Reitz, die Feinheit, und die Verſchoͤnerung der Phan- taſie, kurz alles zuſammen fließt, das Laſter angenehm zu machen.
Le Cabinet de l’Hiſtoire Naturelle du Roi, beſuchte ich heute zum erſtenmahl. So ſteht mit goldnen Buchſtaben uͤber der einen Thuͤre. Das, was man den Fremden zeigt, iſt in 4 groſſen hohen Zimmern an den Waͤnden uͤberall herum, und zum Theil auch oben an der Decke angebracht. Alles iſt in wohlverſchloſſenen Schraͤnken mit vielen Schubladen und Faͤchern, Glas- thuͤren, und franzoͤſiſchen Zetteln. Viel Ordnung iſt nicht in der Anordnung, es ſcheint, es fehlt am Platz, oder man hat’s noch nicht weiter aus einander bringen wollen. Vieles ſteht im Schatten, vieles zu niedrig, vieles viel zu hoch. Man kans mit der Lorgnette in der Hand nicht ſehen. Wenns aufgemacht wird, welches alle Woche zweimahl geſchieht, ſo faͤhrt und geht immer eine Menge Menſchen von allen Geſchlechtern, Stand und Alter hinein. Es iſt ein Getuͤmmel, wie aufm
Markt.
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ches Stuͤck beſſer geweiht werden koͤnnen, als der ungluͤck-
lichen Liebe? Man ſieht, man fuͤhlt, man wuͤnſcht mehr,
wenn man nur das Bild ſieht, als wenn man den gan-
zen Siegwart lieſt. — Iſt etwas, das in groſſen
Staͤdten der Erziehung vortheilhaft iſt, ſo iſt’s gewis der
Anblick ſo vieler und mannichfaltiger Werke der Kunſt,
die den Geſchmack beſſer ſchaͤrfen als Regeln; ſo ge-
faͤhrlich freilich auch auf der andern Seite dieſe Plaͤtze
jungen, unverſchloſſenen, Seelen werden koͤnnen. Denn
neben einer Kreuzigung haͤngt eine nackte Danae, oder
eine badende Suſanne, oder eine Venus, unter den
Haͤnden der Grazien, wo die Nachahmung der Natur,
der Reitz, die Feinheit, und die Verſchoͤnerung der Phan-
taſie, kurz alles zuſammen fließt, das Laſter angenehm
zu machen.
Le Cabinet de l’Hiſtoire Naturelle du Roi,
beſuchte ich heute zum erſtenmahl. So ſteht mit goldnen
Buchſtaben uͤber der einen Thuͤre. Das, was man den
Fremden zeigt, iſt in 4 groſſen hohen Zimmern an den
Waͤnden uͤberall herum, und zum Theil auch oben an der
Decke angebracht. Alles iſt in wohlverſchloſſenen
Schraͤnken mit vielen Schubladen und Faͤchern, Glas-
thuͤren, und franzoͤſiſchen Zetteln. Viel Ordnung iſt
nicht in der Anordnung, es ſcheint, es fehlt am Platz,
oder man hat’s noch nicht weiter aus einander bringen
wollen. Vieles ſteht im Schatten, vieles zu niedrig,
vieles viel zu hoch. Man kans mit der Lorgnette in der
Hand nicht ſehen. Wenns aufgemacht wird, welches
alle Woche zweimahl geſchieht, ſo faͤhrt und geht immer
eine Menge Menſchen von allen Geſchlechtern, Stand
und Alter hinein. Es iſt ein Getuͤmmel, wie aufm
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird … [mehr]
Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird dessen Reisebeschreibung veröffentlicht. Es handelt sich dabei um ein druckfertiges Manuskript aus dem Nachlass, welches Sanders Vater dem Verleger Friedrich Gotthold Jacobäer zur Verfügung stellte. Nach dem Vorbericht des Herausgebers wurden nur einige wenige Schreibfehler berichtigt (siehe dazu den Vorbericht des Herausgebers des ersten Bandes, Faksimile 0019f.).
Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 1. Leipzig, 1783, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung01_1783/74>, abgerufen am 21.11.2024.
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