ste Theil des aufwachsenden Frauenzimmers verläst indes gern die Sitten des vorigen Jahrhunderts, und kleidet sich natürlicher, freier und simpler. Die Bürgermädchen gehen recht artig und niedlich gekleidet, ohne sich mit Putz, Poschen, Straussen- und Reiherfedern unnatürlich zu verunstalten. Sonst hab' ich noch in Ulmischen Kir- chen eine Unanständigkeit bemerkt, die ich zu Steuer der Wahrheit nicht verschweigen kan. Man erlaubt auch jungen, starken, und gesunden Leuten, die grossen Hüte während dem Gottesdienste aufzusetzen. Auch hat fast jede Person ihren eignen Sitz, der aufgeschlagen und nie- dergelassen werden kann. Da entsteht nun beim Anfan- ge der Predigt ein solcher Lärmen in der grossen weiten Kirche, daß man bei ganz andern Anlässen zu seyn glaubt. Der Apostel würde eine Vorschrift der Wohlanständigkeit und der Sittsamkeit wiederholt haben, wenn er das ge- hört hätte. Auch ist es vielleicht keine gute Einrichtung, daß man am frühen Morgen schon zu singen anfängt, und erst nach etlichen Stunden predigt. Während dem Singen, das doch ein Gebet zu Gott ist, hört das Lau- fen nicht auf. Viele, die aus der Gottseligkeit ein Ge- werbe machen, singen sich fast heiser, und denken nichts dabei. Andre kommen gar nicht zum Singen, und ver- lieren, um nicht überladen zu werden, diese Art der Er- bauung ganz. Auch fällt es dem Fremden sehr auf, wenn Leute, die sonst einen Namen haben, die Liturgien und Gebete so unverständlich, eilfertig und unangenehm herablesen, daß man nichts denken, nichts fühlen kan, auch nicht zuhören mag. Ein Beweis, meine Liebste! daß wir wahrhaftig auch in protestantischen Kirchen am öffentlichen Unterrichte noch manches zu verbessern haben. Darf ich es sagen, man hört zu wenig die pia desideria,
die
ſte Theil des aufwachſenden Frauenzimmers verlaͤſt indes gern die Sitten des vorigen Jahrhunderts, und kleidet ſich natuͤrlicher, freier und ſimpler. Die Buͤrgermaͤdchen gehen recht artig und niedlich gekleidet, ohne ſich mit Putz, Poſchen, Strauſſen- und Reiherfedern unnatuͤrlich zu verunſtalten. Sonſt hab’ ich noch in Ulmiſchen Kir- chen eine Unanſtaͤndigkeit bemerkt, die ich zu Steuer der Wahrheit nicht verſchweigen kan. Man erlaubt auch jungen, ſtarken, und geſunden Leuten, die groſſen Huͤte waͤhrend dem Gottesdienſte aufzuſetzen. Auch hat faſt jede Perſon ihren eignen Sitz, der aufgeſchlagen und nie- dergelaſſen werden kann. Da entſteht nun beim Anfan- ge der Predigt ein ſolcher Laͤrmen in der groſſen weiten Kirche, daß man bei ganz andern Anlaͤſſen zu ſeyn glaubt. Der Apoſtel wuͤrde eine Vorſchrift der Wohlanſtaͤndigkeit und der Sittſamkeit wiederholt haben, wenn er das ge- hoͤrt haͤtte. Auch iſt es vielleicht keine gute Einrichtung, daß man am fruͤhen Morgen ſchon zu ſingen anfaͤngt, und erſt nach etlichen Stunden predigt. Waͤhrend dem Singen, das doch ein Gebet zu Gott iſt, hoͤrt das Lau- fen nicht auf. Viele, die aus der Gottſeligkeit ein Ge- werbe machen, ſingen ſich faſt heiſer, und denken nichts dabei. Andre kommen gar nicht zum Singen, und ver- lieren, um nicht uͤberladen zu werden, dieſe Art der Er- bauung ganz. Auch faͤllt es dem Fremden ſehr auf, wenn Leute, die ſonſt einen Namen haben, die Liturgien und Gebete ſo unverſtaͤndlich, eilfertig und unangenehm herableſen, daß man nichts denken, nichts fuͤhlen kan, auch nicht zuhoͤren mag. Ein Beweis, meine Liebſte! daß wir wahrhaftig auch in proteſtantiſchen Kirchen am oͤffentlichen Unterrichte noch manches zu verbeſſern haben. Darf ich es ſagen, man hoͤrt zu wenig die pia deſideria,
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ſte Theil des aufwachſenden Frauenzimmers verlaͤſt indes
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ſich natuͤrlicher, freier und ſimpler. Die Buͤrgermaͤdchen
gehen recht artig und niedlich gekleidet, ohne ſich mit
Putz, Poſchen, Strauſſen- und Reiherfedern unnatuͤrlich
zu verunſtalten. Sonſt hab’ ich noch in Ulmiſchen Kir-
chen eine Unanſtaͤndigkeit bemerkt, die ich zu Steuer der
Wahrheit nicht verſchweigen kan. Man erlaubt auch
jungen, ſtarken, und geſunden Leuten, die groſſen Huͤte
waͤhrend dem Gottesdienſte aufzuſetzen. Auch hat faſt
jede Perſon ihren eignen Sitz, der aufgeſchlagen und nie-
dergelaſſen werden kann. Da entſteht nun beim Anfan-
ge der Predigt ein ſolcher Laͤrmen in der groſſen weiten
Kirche, daß man bei ganz andern Anlaͤſſen zu ſeyn glaubt.
Der Apoſtel wuͤrde eine Vorſchrift der Wohlanſtaͤndigkeit
und der Sittſamkeit wiederholt haben, wenn er das ge-
hoͤrt haͤtte. Auch iſt es vielleicht keine gute Einrichtung,
daß man am fruͤhen Morgen ſchon zu ſingen anfaͤngt,
und erſt nach etlichen Stunden predigt. Waͤhrend dem
Singen, das doch ein Gebet zu Gott iſt, hoͤrt das Lau-
fen nicht auf. Viele, die aus der Gottſeligkeit ein Ge-
werbe machen, ſingen ſich faſt heiſer, und denken nichts
dabei. Andre kommen gar nicht zum Singen, und ver-
lieren, um nicht uͤberladen zu werden, dieſe Art der Er-
bauung ganz. Auch faͤllt es dem Fremden ſehr auf,
wenn Leute, die ſonſt einen Namen haben, die Liturgien
und Gebete ſo unverſtaͤndlich, eilfertig und unangenehm
herableſen, daß man nichts denken, nichts fuͤhlen kan,
auch nicht zuhoͤren mag. Ein Beweis, meine Liebſte!
daß wir wahrhaftig auch in proteſtantiſchen Kirchen am
oͤffentlichen Unterrichte noch manches zu verbeſſern haben.
Darf ich es ſagen, man hoͤrt zu wenig die pia deſideria,
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird … [mehr]
Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird dessen Reisebeschreibung veröffentlicht. Es handelt sich dabei um ein druckfertiges Manuskript aus dem Nachlass, welches Sanders Vater dem Verleger Friedrich Gotthold Jacobäer zur Verfügung stellte. Nach dem Vorbericht des Herausgebers wurden nur einige wenige Schreibfehler berichtigt (siehe dazu den Vorbericht des Herausgebers des ersten Bandes, Faksimile 0019f.).
Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 2. Leipzig, 1784, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung02_1784/54>, abgerufen am 21.11.2024.
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