Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Menschenliebe des Erlösers.
sterbe das göttliche Geschlecht derer, die dir durch Liebe
ähnlich werden, und dein Bild auf Erden sind.

Unser Erlöser predigte diese Pflicht besonders dem
Volk, unter welchem er sichtbar wandelte. Der Jude
liebte gemeiniglich nur seine Landsleute, und seine Glau-
bensgenossen. Die Vorrechte, die ihnen die höchste Güte
Gottes geschenkt hatte, machten sie so stolz, daß sie alle
andre Menschen neben sich, als unheilige, unwürdige,
und verabscheuungswerthe Geschöpfe ansahen. Ein
Heide war ordentlicher Weise in den Augen des Beschnit-
tenen ein Mensch, der an keine Gnade Gottes Anspruch
machen konnte, dem die ewigen Strafen gewiß bestimmt
waren, der von dem Lieblingsvolk Gottes keine Billig-
keit im Handel und Wandel, keine Gerechtigkeit, vor
Gericht kein Recht, im gemeinen Leben keine Liebe, keine
Sanftmuth, keine Verträglichkeit, und im Unglück we-
der Mitleiden noch Unterstützung erwarten, oder gar for-
dern konnte. Jn der alten Welt war fast zwischen al-
len Nationen ein unversöhnlicher Haß. Jede wollte die
erste, die ältete, die wichtigste auf dem ganzen Erd-
boden seyn. Ein Volk, das mächtig und stark geworden
war, griff, wie ein Raubthier, um sich, verschlang von
den kleineren Staaten, so viel als es konnte, und legte
ihnen das Joch der Dienstbarkeit auf. Mehrere Ursa-
chen zusammengenommen brachten die Sklaverey, die
Leibeigenschaft auf, und viele tausend Menschen verloh-
ren, weil sie arm waren, weil ihre Väter schon im Elend
und in den abscheulichsten Kerkern geschmachtet hatten,
gleich bey der Geburt alle natürliche Rechte der Mensch-
heit, wurden mit dem Lastvieh in eine Classe gesetzt, und

mußten

Menſchenliebe des Erlöſers.
ſterbe das göttliche Geſchlecht derer, die dir durch Liebe
ähnlich werden, und dein Bild auf Erden ſind.

Unſer Erlöſer predigte dieſe Pflicht beſonders dem
Volk, unter welchem er ſichtbar wandelte. Der Jude
liebte gemeiniglich nur ſeine Landsleute, und ſeine Glau-
bensgenoſſen. Die Vorrechte, die ihnen die höchſte Güte
Gottes geſchenkt hatte, machten ſie ſo ſtolz, daß ſie alle
andre Menſchen neben ſich, als unheilige, unwürdige,
und verabſcheuungswerthe Geſchöpfe anſahen. Ein
Heide war ordentlicher Weiſe in den Augen des Beſchnit-
tenen ein Menſch, der an keine Gnade Gottes Anſpruch
machen konnte, dem die ewigen Strafen gewiß beſtimmt
waren, der von dem Lieblingsvolk Gottes keine Billig-
keit im Handel und Wandel, keine Gerechtigkeit, vor
Gericht kein Recht, im gemeinen Leben keine Liebe, keine
Sanftmuth, keine Verträglichkeit, und im Unglück we-
der Mitleiden noch Unterſtützung erwarten, oder gar for-
dern konnte. Jn der alten Welt war faſt zwiſchen al-
len Nationen ein unverſöhnlicher Haß. Jede wollte die
erſte, die ältete, die wichtigſte auf dem ganzen Erd-
boden ſeyn. Ein Volk, das mächtig und ſtark geworden
war, griff, wie ein Raubthier, um ſich, verſchlang von
den kleineren Staaten, ſo viel als es konnte, und legte
ihnen das Joch der Dienſtbarkeit auf. Mehrere Urſa-
chen zuſammengenommen brachten die Sklaverey, die
Leibeigenſchaft auf, und viele tauſend Menſchen verloh-
ren, weil ſie arm waren, weil ihre Väter ſchon im Elend
und in den abſcheulichſten Kerkern geſchmachtet hatten,
gleich bey der Geburt alle natürliche Rechte der Menſch-
heit, wurden mit dem Laſtvieh in eine Claſſe geſetzt, und

mußten
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0146" n="140"/><fw place="top" type="header">Men&#x017F;chenliebe des Erlö&#x017F;ers.</fw><lb/>
&#x017F;terbe das göttliche Ge&#x017F;chlecht derer, die dir durch Liebe<lb/>
ähnlich werden, und dein Bild auf Erden &#x017F;ind.</p><lb/>
        <p>Un&#x017F;er Erlö&#x017F;er predigte die&#x017F;e Pflicht be&#x017F;onders dem<lb/>
Volk, unter welchem er &#x017F;ichtbar wandelte. Der Jude<lb/>
liebte gemeiniglich nur &#x017F;eine Landsleute, und &#x017F;eine Glau-<lb/>
bensgeno&#x017F;&#x017F;en. Die Vorrechte, die ihnen die höch&#x017F;te Güte<lb/>
Gottes ge&#x017F;chenkt hatte, machten &#x017F;ie &#x017F;o &#x017F;tolz, daß &#x017F;ie alle<lb/>
andre Men&#x017F;chen neben &#x017F;ich, als unheilige, unwürdige,<lb/>
und verab&#x017F;cheuungswerthe Ge&#x017F;chöpfe an&#x017F;ahen. Ein<lb/>
Heide war ordentlicher Wei&#x017F;e in den Augen des Be&#x017F;chnit-<lb/>
tenen ein Men&#x017F;ch, der an keine Gnade Gottes An&#x017F;pruch<lb/>
machen konnte, dem die ewigen Strafen gewiß be&#x017F;timmt<lb/>
waren, der von dem Lieblingsvolk Gottes keine Billig-<lb/>
keit im Handel und Wandel, keine Gerechtigkeit, vor<lb/>
Gericht kein Recht, im gemeinen Leben keine Liebe, keine<lb/>
Sanftmuth, keine Verträglichkeit, und im Unglück we-<lb/>
der Mitleiden noch Unter&#x017F;tützung erwarten, oder gar for-<lb/>
dern konnte. Jn der alten Welt war fa&#x017F;t zwi&#x017F;chen al-<lb/>
len Nationen ein unver&#x017F;öhnlicher Haß. Jede wollte die<lb/>
er&#x017F;te, die ältete, die wichtig&#x017F;te auf dem ganzen Erd-<lb/>
boden &#x017F;eyn. Ein Volk, das mächtig und &#x017F;tark geworden<lb/>
war, griff, wie ein Raubthier, um &#x017F;ich, ver&#x017F;chlang von<lb/>
den kleineren Staaten, &#x017F;o viel als es konnte, und legte<lb/>
ihnen das Joch der Dien&#x017F;tbarkeit auf. Mehrere Ur&#x017F;a-<lb/>
chen zu&#x017F;ammengenommen brachten die Sklaverey, die<lb/>
Leibeigen&#x017F;chaft auf, und viele tau&#x017F;end Men&#x017F;chen verloh-<lb/>
ren, weil &#x017F;ie arm waren, weil ihre Väter &#x017F;chon im Elend<lb/>
und in den ab&#x017F;cheulich&#x017F;ten Kerkern ge&#x017F;chmachtet hatten,<lb/>
gleich bey der Geburt alle natürliche Rechte der Men&#x017F;ch-<lb/>
heit, wurden mit dem La&#x017F;tvieh in eine Cla&#x017F;&#x017F;e ge&#x017F;etzt, und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mußten</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[140/0146] Menſchenliebe des Erlöſers. ſterbe das göttliche Geſchlecht derer, die dir durch Liebe ähnlich werden, und dein Bild auf Erden ſind. Unſer Erlöſer predigte dieſe Pflicht beſonders dem Volk, unter welchem er ſichtbar wandelte. Der Jude liebte gemeiniglich nur ſeine Landsleute, und ſeine Glau- bensgenoſſen. Die Vorrechte, die ihnen die höchſte Güte Gottes geſchenkt hatte, machten ſie ſo ſtolz, daß ſie alle andre Menſchen neben ſich, als unheilige, unwürdige, und verabſcheuungswerthe Geſchöpfe anſahen. Ein Heide war ordentlicher Weiſe in den Augen des Beſchnit- tenen ein Menſch, der an keine Gnade Gottes Anſpruch machen konnte, dem die ewigen Strafen gewiß beſtimmt waren, der von dem Lieblingsvolk Gottes keine Billig- keit im Handel und Wandel, keine Gerechtigkeit, vor Gericht kein Recht, im gemeinen Leben keine Liebe, keine Sanftmuth, keine Verträglichkeit, und im Unglück we- der Mitleiden noch Unterſtützung erwarten, oder gar for- dern konnte. Jn der alten Welt war faſt zwiſchen al- len Nationen ein unverſöhnlicher Haß. Jede wollte die erſte, die ältete, die wichtigſte auf dem ganzen Erd- boden ſeyn. Ein Volk, das mächtig und ſtark geworden war, griff, wie ein Raubthier, um ſich, verſchlang von den kleineren Staaten, ſo viel als es konnte, und legte ihnen das Joch der Dienſtbarkeit auf. Mehrere Urſa- chen zuſammengenommen brachten die Sklaverey, die Leibeigenſchaft auf, und viele tauſend Menſchen verloh- ren, weil ſie arm waren, weil ihre Väter ſchon im Elend und in den abſcheulichſten Kerkern geſchmachtet hatten, gleich bey der Geburt alle natürliche Rechte der Menſch- heit, wurden mit dem Laſtvieh in eine Claſſe geſetzt, und mußten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/146
Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/146>, abgerufen am 21.11.2024.