Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.Menschenliebe des Erlösers. müde Seele wieder zur Freude stimmt! Dort umarmensich zwo Kinder, und geben sich alle Mühe einander die innigste, feurigste, edelste Liebe auszudrücken. Auf ih- rem Gesicht ist die ganze Pracht, die liebenswürdige Güte der Natur mit allen Reizen der Unschuld abgemalt. Jm Schooß der Mutter laufen noch alle ihre Wunsche zusam- men. Fern, fern von ihnen liegt der Götze, dem die Thoren räuchern, und das tausendfarbige Unding von Ehre, das jeder haben will; sie genießen noch das reine, unverdorbene Glück der Menschheit -- Ach, darum sagte Jesus Christus: Wenn ihr nicht werdet wie Kinder, so könnt ihr nicht ins Himmelreich kom- men. (Matth. 18, 3.) Arbeitet alle daran, daß jeder ein Herz voll Gute und Sanftheit gegen jeden andern haben möge. Jn unserm schwachen Gefäß der Menschheit brauchen wir ja diese wechselseitige Hülfe. Das küm- merliche Schicksal, das den Rechtschaffnen oft drückt, wird nur dadurch erleichtert, daß ihm ein andrer sein Ohr leiht, seine Hand bietet, sein Herz öffnet, und die Thrä- nen vom Auge wischt. Gott hat uns doch Ewigkeit in die Seele gegeben. Die Jahre ziehen und kommen nicht wieder. Der tägliche Wandel aller Dinge in der Welt macht uns nach wahren und bleibenden Freuden begierig. Die Welt mit allen ihren Herrlichkeiten ge- währt uns diese nicht. Aber unter allen Tugenden des Christenthums ist die Liebe die größeste, und die al- lerdauerhafteste. (1 Cor. 13, 13.) Zween, drey Men- schen, die sich mit wahrer redlicher Treue verbinden, al- les mögliche Gute freudig auszuüben, im tiefsten Thal des Kummers einander nie zu verlassen, und immer über die Erde weg gen Himmel zu schauen -- wahrlich, das ist
Menſchenliebe des Erlöſers. müde Seele wieder zur Freude ſtimmt! Dort umarmenſich zwo Kinder, und geben ſich alle Mühe einander die innigſte, feurigſte, edelſte Liebe auszudrücken. Auf ih- rem Geſicht iſt die ganze Pracht, die liebenswürdige Güte der Natur mit allen Reizen der Unſchuld abgemalt. Jm Schooß der Mutter laufen noch alle ihre Wunſche zuſam- men. Fern, fern von ihnen liegt der Götze, dem die Thoren räuchern, und das tauſendfarbige Unding von Ehre, das jeder haben will; ſie genießen noch das reine, unverdorbene Glück der Menſchheit — Ach, darum ſagte Jeſus Chriſtus: Wenn ihr nicht werdet wie Kinder, ſo könnt ihr nicht ins Himmelreich kom- men. (Matth. 18, 3.) Arbeitet alle daran, daß jeder ein Herz voll Gùte und Sanftheit gegen jeden andern haben möge. Jn unſerm ſchwachen Gefäß der Menſchheit brauchen wir ja dieſe wechſelſeitige Hülfe. Das küm- merliche Schickſal, das den Rechtſchaffnen oft drückt, wird nur dadurch erleichtert, daß ihm ein andrer ſein Ohr leiht, ſeine Hand bietet, ſein Herz öffnet, und die Thrä- nen vom Auge wiſcht. Gott hat uns doch Ewigkeit in die Seele gegeben. Die Jahre ziehen und kommen nicht wieder. Der tägliche Wandel aller Dinge in der Welt macht uns nach wahren und bleibenden Freuden begierig. Die Welt mit allen ihren Herrlichkeiten ge- währt uns dieſe nicht. Aber unter allen Tugenden des Chriſtenthums iſt die Liebe die größeſte, und die al- lerdauerhafteſte. (1 Cor. 13, 13.) Zween, drey Men- ſchen, die ſich mit wahrer redlicher Treue verbinden, al- les mögliche Gute freudig auszuüben, im tiefſten Thal des Kummers einander nie zu verlaſſen, und immer über die Erde weg gen Himmel zu ſchauen — wahrlich, das iſt
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Menſchenliebe des Erlöſers.
müde Seele wieder zur Freude ſtimmt! Dort umarmen
ſich zwo Kinder, und geben ſich alle Mühe einander die
innigſte, feurigſte, edelſte Liebe auszudrücken. Auf ih-
rem Geſicht iſt die ganze Pracht, die liebenswürdige Güte
der Natur mit allen Reizen der Unſchuld abgemalt. Jm
Schooß der Mutter laufen noch alle ihre Wunſche zuſam-
men. Fern, fern von ihnen liegt der Götze, dem die
Thoren räuchern, und das tauſendfarbige Unding von
Ehre, das jeder haben will; ſie genießen noch das reine,
unverdorbene Glück der Menſchheit — Ach, darum
ſagte Jeſus Chriſtus: Wenn ihr nicht werdet wie
Kinder, ſo könnt ihr nicht ins Himmelreich kom-
men. (Matth. 18, 3.) Arbeitet alle daran, daß jeder
ein Herz voll Gùte und Sanftheit gegen jeden andern
haben möge. Jn unſerm ſchwachen Gefäß der Menſchheit
brauchen wir ja dieſe wechſelſeitige Hülfe. Das küm-
merliche Schickſal, das den Rechtſchaffnen oft drückt,
wird nur dadurch erleichtert, daß ihm ein andrer ſein Ohr
leiht, ſeine Hand bietet, ſein Herz öffnet, und die Thrä-
nen vom Auge wiſcht. Gott hat uns doch Ewigkeit in
die Seele gegeben. Die Jahre ziehen und kommen
nicht wieder. Der tägliche Wandel aller Dinge in der
Welt macht uns nach wahren und bleibenden Freuden
begierig. Die Welt mit allen ihren Herrlichkeiten ge-
währt uns dieſe nicht. Aber unter allen Tugenden des
Chriſtenthums iſt die Liebe die größeſte, und die al-
lerdauerhafteſte. (1 Cor. 13, 13.) Zween, drey Men-
ſchen, die ſich mit wahrer redlicher Treue verbinden, al-
les mögliche Gute freudig auszuüben, im tiefſten Thal
des Kummers einander nie zu verlaſſen, und immer über
die Erde weg gen Himmel zu ſchauen — wahrlich, das
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