Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.Seine Vorschriften zur Liebe. alles erhaschen, was den gierigsten Hunger sättigen kann,ists mehr, als Schale ohne Kern? Wasserfarben ohne Dauer? Rahmen ohne Gemälde? Betrug ohne Wahr- heit? falscher Ueberzug ohne innern Gehalt? Rechnen wir dann die Last der Verschuldungen vor Gott nicht? Schätzen wir die Unruhe, und den Verlust so mancher sanften Freuden nicht? Kaum finden wir uns, so trennt uns das Schicksal wieder. Meere und Berge liegen zwischen vielen guten Menschen in der Mitte; sie gäben oft gern das Liebste her, um nur einen Tag beysammen zu seyn: aber das Auge sieht die stille Wohnung des ent- fernten Freundes nicht; wir reden von ihm, wir reden mit ihm, und er hörts nicht; er leidet, und wir wissen es nicht; er jammert, und wir können ihm nicht einmal unser Mitleiden bezeugen; und da, wo wir unsre Besten um uns herum haben, fährt in der Nacht das Schwerdt des Todes aus seiner Scheide, und macht eine schreck- liche Lücke. Der jüngere Bruder kämpft noch mit den Wellen, indessen ruht der ältere schon im Hafen. Wir alle werden so bald zerstreut, die Gräber füllen sich, -- und o Thorheit der Menschen! doch leben wir so gern im ewigen Mißtrauen, im beschwerlichen Zwang, in im- merwährender Trennung! Wo gehen dann unsre Wün- sche hin? Wir hoffen immer, und erhalten nichts. Wir ermatten uns durch Sehnsucht, und werden nie gesättigt. Die süßen Jahre der Jugend vergehen, wie das Mor- genroth am Himmel schwindet. Im Männerleben trennt uns der Neid, die Unzufriedenheit, und ruheloser Ehrgeiz reißt die Bande der Liebe von einander. Durch Herrsch- sucht und Stolz rauben wir uns so manches Vergnügen, das wir von und mit andern Menschen umsonst genießen könnten.
Seine Vorſchriften zur Liebe. alles erhaſchen, was den gierigſten Hunger ſättigen kann,iſts mehr, als Schale ohne Kern? Waſſerfarben ohne Dauer? Rahmen ohne Gemälde? Betrug ohne Wahr- heit? falſcher Ueberzug ohne innern Gehalt? Rechnen wir dann die Laſt der Verſchuldungen vor Gott nicht? Schätzen wir die Unruhe, und den Verluſt ſo mancher ſanften Freuden nicht? Kaum finden wir uns, ſo trennt uns das Schickſal wieder. Meere und Berge liegen zwiſchen vielen guten Menſchen in der Mitte; ſie gäben oft gern das Liebſte her, um nur einen Tag beyſammen zu ſeyn: aber das Auge ſieht die ſtille Wohnung des ent- fernten Freundes nicht; wir reden von ihm, wir reden mit ihm, und er hörts nicht; er leidet, und wir wiſſen es nicht; er jammert, und wir können ihm nicht einmal unſer Mitleiden bezeugen; und da, wo wir unſre Beſten um uns herum haben, fährt in der Nacht das Schwerdt des Todes aus ſeiner Scheide, und macht eine ſchreck- liche Lücke. Der jüngere Bruder kämpft noch mit den Wellen, indeſſen ruht der ältere ſchon im Hafen. Wir alle werden ſo bald zerſtreut, die Gräber füllen ſich, — und o Thorheit der Menſchen! doch leben wir ſo gern im ewigen Mißtrauen, im beſchwerlichen Zwang, in im- merwährender Trennung! Wo gehen dann unſre Wün- ſche hin? Wir hoffen immer, und erhalten nichts. Wir ermatten uns durch Sehnſucht, und werden nie geſättigt. Die ſüßen Jahre der Jugend vergehen, wie das Mor- genroth am Himmel ſchwindet. Im Männerleben trennt uns der Neid, die Unzufriedenheit, und ruheloſer Ehrgeiz reißt die Bande der Liebe von einander. Durch Herrſch- ſucht und Stolz rauben wir uns ſo manches Vergnügen, das wir von und mit andern Menſchen umſonſt genießen könnten.
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Seine Vorſchriften zur Liebe.
alles erhaſchen, was den gierigſten Hunger ſättigen kann,
iſts mehr, als Schale ohne Kern? Waſſerfarben ohne
Dauer? Rahmen ohne Gemälde? Betrug ohne Wahr-
heit? falſcher Ueberzug ohne innern Gehalt? Rechnen
wir dann die Laſt der Verſchuldungen vor Gott nicht?
Schätzen wir die Unruhe, und den Verluſt ſo mancher
ſanften Freuden nicht? Kaum finden wir uns, ſo trennt
uns das Schickſal wieder. Meere und Berge liegen
zwiſchen vielen guten Menſchen in der Mitte; ſie gäben
oft gern das Liebſte her, um nur einen Tag beyſammen
zu ſeyn: aber das Auge ſieht die ſtille Wohnung des ent-
fernten Freundes nicht; wir reden von ihm, wir reden
mit ihm, und er hörts nicht; er leidet, und wir wiſſen
es nicht; er jammert, und wir können ihm nicht einmal
unſer Mitleiden bezeugen; und da, wo wir unſre Beſten
um uns herum haben, fährt in der Nacht das Schwerdt
des Todes aus ſeiner Scheide, und macht eine ſchreck-
liche Lücke. Der jüngere Bruder kämpft noch mit den
Wellen, indeſſen ruht der ältere ſchon im Hafen. Wir
alle werden ſo bald zerſtreut, die Gräber füllen ſich, —
und o Thorheit der Menſchen! doch leben wir ſo gern
im ewigen Mißtrauen, im beſchwerlichen Zwang, in im-
merwährender Trennung! Wo gehen dann unſre Wün-
ſche hin? Wir hoffen immer, und erhalten nichts. Wir
ermatten uns durch Sehnſucht, und werden nie geſättigt.
Die ſüßen Jahre der Jugend vergehen, wie das Mor-
genroth am Himmel ſchwindet. Im Männerleben trennt
uns der Neid, die Unzufriedenheit, und ruheloſer Ehrgeiz
reißt die Bande der Liebe von einander. Durch Herrſch-
ſucht und Stolz rauben wir uns ſo manches Vergnügen,
das wir von und mit andern Menſchen umſonſt genießen
könnten.
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