Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.Ueber die Thränen Jesu Christi. schöne Ergießungen des Herzens! welche Sprache!welch ein Affect! Mit Thränen bereitet sich Jesus Christus zum Tode, mit Thränen über andre schließt sich sein Amt. Der Mann, den die Morgenröthe nie im Schlummer fand, der Mann, dessen ganzer Wandel ein ewiges Wohlthun war, der keine andre Größe kannte, als Güte und Liebe, der vor keinem Armen ohne Empfin- dung vorbeygieng, dem sein schwerer Beruf Freude und Lust war, der in der Dürftigkeit zufrieden, bey der Ver- achtung geduldig, in Gottes, schöner Natur immer heiter und munter war, und alle Tage den Kreis vollendete, der ihm vorgeschrieben war! Bisher war er unter ge- meinen Leuten glücklich gewesen. Auf dem Land gieng hie und da der Saame der Wahrheit und Tugend, den er ausstreute, auf. Aber in der Hauptstadt, in Je- rusalem, thronten die Laster. Da waren Religionsver- ächter, Spötter, Heuchler, Wollüstlinge, Schwelger, Menschenfeinde, Betrüger; da waren gewinnsüchtige Priester, schlechte gewissenlose Obrigkeiten, nachläßige Väter, böse Kinder. Die Paläste waren prächtig, aber ihre Bewohner waren undankbare, leichtsinnige, freche, trotzige Menschen. Wie oft ergötzten sie sich an ihrem äußerlichen Wohlstand! Wie oft standen sie um den Tempel herum, bewunderten das Gold, das in der Sonne glänzte, und träumten nicht weniger, als eine Ewigkeit! Wie oft verschwendeten sie ihren Witz an dem Galiläer, der im Lande herum gieng, spotteten über seine niedrige Herkunft, lachten über seine Sprache, scherzten über seine Warnungen, und befürchteten keine Gefahr! Wie blind, wie taub und gedankenlos taumelten sie auf der breiten Straße des Leichtsinns und der Kaltsinnigkeit fort, ohne es N 3
Ueber die Thränen Jeſu Chriſti. ſchöne Ergießungen des Herzens! welche Sprache!welch ein Affect! Mit Thränen bereitet ſich Jeſus Chriſtus zum Tode, mit Thränen über andre ſchließt ſich ſein Amt. Der Mann, den die Morgenröthe nie im Schlummer fand, der Mann, deſſen ganzer Wandel ein ewiges Wohlthun war, der keine andre Größe kannte, als Güte und Liebe, der vor keinem Armen ohne Empfin- dung vorbeygieng, dem ſein ſchwerer Beruf Freude und Luſt war, der in der Dürftigkeit zufrieden, bey der Ver- achtung geduldig, in Gottes, ſchöner Natur immer heiter und munter war, und alle Tage den Kreis vollendete, der ihm vorgeſchrieben war! Bisher war er unter ge- meinen Leuten glücklich geweſen. Auf dem Land gieng hie und da der Saame der Wahrheit und Tugend, den er ausſtreute, auf. Aber in der Hauptſtadt, in Je- ruſalem, thronten die Laſter. Da waren Religionsver- ächter, Spötter, Heuchler, Wollüſtlinge, Schwelger, Menſchenfeinde, Betrüger; da waren gewinnſüchtige Prieſter, ſchlechte gewiſſenloſe Obrigkeiten, nachläßige Väter, böſe Kinder. Die Paläſte waren prächtig, aber ihre Bewohner waren undankbare, leichtſinnige, freche, trotzige Menſchen. Wie oft ergötzten ſie ſich an ihrem äußerlichen Wohlſtand! Wie oft ſtanden ſie um den Tempel herum, bewunderten das Gold, das in der Sonne glänzte, und träumten nicht weniger, als eine Ewigkeit! Wie oft verſchwendeten ſie ihren Witz an dem Galiläer, der im Lande herum gieng, ſpotteten über ſeine niedrige Herkunft, lachten über ſeine Sprache, ſcherzten über ſeine Warnungen, und befürchteten keine Gefahr! Wie blind, wie taub und gedankenlos taumelten ſie auf der breiten Straße des Leichtſinns und der Kaltſinnigkeit fort, ohne es N 3
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Ueber die Thränen Jeſu Chriſti.
ſchöne Ergießungen des Herzens! welche Sprache!
welch ein Affect! Mit Thränen bereitet ſich Jeſus
Chriſtus zum Tode, mit Thränen über andre ſchließt ſich
ſein Amt. Der Mann, den die Morgenröthe nie im
Schlummer fand, der Mann, deſſen ganzer Wandel
ein ewiges Wohlthun war, der keine andre Größe kannte,
als Güte und Liebe, der vor keinem Armen ohne Empfin-
dung vorbeygieng, dem ſein ſchwerer Beruf Freude und
Luſt war, der in der Dürftigkeit zufrieden, bey der Ver-
achtung geduldig, in Gottes, ſchöner Natur immer heiter
und munter war, und alle Tage den Kreis vollendete,
der ihm vorgeſchrieben war! Bisher war er unter ge-
meinen Leuten glücklich geweſen. Auf dem Land gieng
hie und da der Saame der Wahrheit und Tugend, den
er ausſtreute, auf. Aber in der Hauptſtadt, in Je-
ruſalem, thronten die Laſter. Da waren Religionsver-
ächter, Spötter, Heuchler, Wollüſtlinge, Schwelger,
Menſchenfeinde, Betrüger; da waren gewinnſüchtige
Prieſter, ſchlechte gewiſſenloſe Obrigkeiten, nachläßige
Väter, böſe Kinder. Die Paläſte waren prächtig, aber
ihre Bewohner waren undankbare, leichtſinnige, freche,
trotzige Menſchen. Wie oft ergötzten ſie ſich an ihrem
äußerlichen Wohlſtand! Wie oft ſtanden ſie um den
Tempel herum, bewunderten das Gold, das in der Sonne
glänzte, und träumten nicht weniger, als eine Ewigkeit!
Wie oft verſchwendeten ſie ihren Witz an dem Galiläer,
der im Lande herum gieng, ſpotteten über ſeine niedrige
Herkunft, lachten über ſeine Sprache, ſcherzten über ſeine
Warnungen, und befürchteten keine Gefahr! Wie blind,
wie taub und gedankenlos taumelten ſie auf der breiten
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