Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.Ueber die Thränen Jesu Christi. Alles, was er unter ihnen sieht und hört, erneuret sei-nen Schmerz in der Seele. Er seufzte zu Gott, er bat um Licht, um Stärkung, um Nachdruck bey den Blin- den, um Macht zu seinen großen Unternehmen; er flchte seinen Vater um Erleichterung der Trübsal für die we- nigen guten Menschen, die mit leiden mußten, wenn nun der ganze Staat zusammenstürzte. Die Strafe Gottes konnte nicht ausbleiben. Diese traurige Nothwendig- keit beklagt er, und deckt ihnen die wahre Quelle ihres Untergangs auf. Ein Theil von seinen Bekannten war ihm entgegen gegangen, und erwies ihm königliche Ehre. Das war ihm noch nie wiederfahren, er ließ es aber zu, damit das ganze Volk auf sein ganzes Vetragen, auf sein Leiden und Sterben aufmerken sollte. Seine große stille Seele ward dadurch nicht zerstreut. Was war eine Hand voll Palmenzweige für ihn, der nun bald die Erde ver- lassen, und über aller Himmel Himmel erhoben werden sollte? Er nahm das Lob an, das man ihm schuldig war; aber die betrübte Verfassung, das mannichfaltige Ver- derben, die vielen Ränke und krummen Wege, die häu- figen Uneinigkeiten in den Familien, der herrschende Ton, das allgemeine Verlangen, vornehm und reich zu seyn, das sinkende Ansehen der Religion, die Freyheit, womit das Laster sein Haupt erhob, die tausendsachen Fehler in der Kindererziehung, die Ungerechtigkeiten der Kaufleute, die schädliche Unbescheidenheit der untersten Glieder des Staats, die Trägheit und Schläfrigkeit der Vorsteher, die Saumseligkeit der Priester, und die Menschenfurcht der Lehrer, die Geringschätzung der Feyertage und der Sabbathe, die Eitelkeit der Kleiderpracht, die Ausge- lassenheit der Jugend bey so vielen verführerischen Bey- spielen N 4
Ueber die Thränen Jeſu Chriſti. Alles, was er unter ihnen ſieht und hört, erneuret ſei-nen Schmerz in der Seele. Er ſeufzte zu Gott, er bat um Licht, um Stärkung, um Nachdruck bey den Blin- den, um Macht zu ſeinen großen Unternehmen; er flchte ſeinen Vater um Erleichterung der Trübſal für die we- nigen guten Menſchen, die mit leiden mußten, wenn nun der ganze Staat zuſammenſtürzte. Die Strafe Gottes konnte nicht ausbleiben. Dieſe traurige Nothwendig- keit beklagt er, und deckt ihnen die wahre Quelle ihres Untergangs auf. Ein Theil von ſeinen Bekannten war ihm entgegen gegangen, und erwies ihm königliche Ehre. Das war ihm noch nie wiederfahren, er ließ es aber zu, damit das ganze Volk auf ſein ganzes Vetragen, auf ſein Leiden und Sterben aufmerken ſollte. Seine große ſtille Seele ward dadurch nicht zerſtreut. Was war eine Hand voll Palmenzweige für ihn, der nun bald die Erde ver- laſſen, und über aller Himmel Himmel erhoben werden ſollte? Er nahm das Lob an, das man ihm ſchuldig war; aber die betrübte Verfaſſung, das mannichfaltige Ver- derben, die vielen Ränke und krummen Wege, die häu- figen Uneinigkeiten in den Familien, der herrſchende Ton, das allgemeine Verlangen, vornehm und reich zu ſeyn, das ſinkende Anſehen der Religion, die Freyheit, womit das Laſter ſein Haupt erhob, die tauſendſachen Fehler in der Kindererziehung, die Ungerechtigkeiten der Kaufleute, die ſchädliche Unbeſcheidenheit der unterſten Glieder des Staats, die Trägheit und Schläfrigkeit der Vorſteher, die Saumſeligkeit der Prieſter, und die Menſchenfurcht der Lehrer, die Geringſchätzung der Feyertage und der Sabbathe, die Eitelkeit der Kleiderpracht, die Ausge- laſſenheit der Jugend bey ſo vielen verführeriſchen Bey- ſpielen N 4
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Ueber die Thränen Jeſu Chriſti.
Alles, was er unter ihnen ſieht und hört, erneuret ſei-
nen Schmerz in der Seele. Er ſeufzte zu Gott, er bat
um Licht, um Stärkung, um Nachdruck bey den Blin-
den, um Macht zu ſeinen großen Unternehmen; er flchte
ſeinen Vater um Erleichterung der Trübſal für die we-
nigen guten Menſchen, die mit leiden mußten, wenn nun
der ganze Staat zuſammenſtürzte. Die Strafe Gottes
konnte nicht ausbleiben. Dieſe traurige Nothwendig-
keit beklagt er, und deckt ihnen die wahre Quelle ihres
Untergangs auf. Ein Theil von ſeinen Bekannten war
ihm entgegen gegangen, und erwies ihm königliche Ehre.
Das war ihm noch nie wiederfahren, er ließ es aber zu,
damit das ganze Volk auf ſein ganzes Vetragen, auf ſein
Leiden und Sterben aufmerken ſollte. Seine große ſtille
Seele ward dadurch nicht zerſtreut. Was war eine Hand
voll Palmenzweige für ihn, der nun bald die Erde ver-
laſſen, und über aller Himmel Himmel erhoben werden
ſollte? Er nahm das Lob an, das man ihm ſchuldig war;
aber die betrübte Verfaſſung, das mannichfaltige Ver-
derben, die vielen Ränke und krummen Wege, die häu-
figen Uneinigkeiten in den Familien, der herrſchende Ton,
das allgemeine Verlangen, vornehm und reich zu ſeyn,
das ſinkende Anſehen der Religion, die Freyheit, womit
das Laſter ſein Haupt erhob, die tauſendſachen Fehler in
der Kindererziehung, die Ungerechtigkeiten der Kaufleute,
die ſchädliche Unbeſcheidenheit der unterſten Glieder des
Staats, die Trägheit und Schläfrigkeit der Vorſteher,
die Saumſeligkeit der Prieſter, und die Menſchenfurcht
der Lehrer, die Geringſchätzung der Feyertage und der
Sabbathe, die Eitelkeit der Kleiderpracht, die Ausge-
laſſenheit der Jugend bey ſo vielen verführeriſchen Bey-
ſpielen
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