Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.Ueber die Thränen Jesu Christi. gen jezt schneller auf mächtige Empfindungen, sein gan-zes Gesicht wird düster, seine Bedaurung geht plötzlich in Mitleiden über, im Grunde der Seele wirds ihm wie einer Mutter, wenn Gott mit scharfem Messer den Säug- ling von ihr wegschneidet, das Blut wallt ihm heftiger, die Thränen fallen ihm aus den Augen, es ist, als wenn er das Schreyen der Feinde, die Werkzeuge der Bela- gerung, den Rauch des Feuers, das Winseln des Volks, das hundertfältige Elend einer eisernen Hungersnoth, das Krachen der Häuser, das Einstürzen des Tempels, das Würgen der Krieger, die Ströme von Blut, die verschütteten Straßen, die barbarische Unbarmherzigkeit der Römer, als wenn er schon in allen Gasfen Tod und Zerstörung verbreitet sähe! Ach, sagt er, wenn doch auch du, du große und geliebte Stadt! es wenig- stens heute, jezt noch ernstlich überlegen wolltest, was zu deinem wahren Glück dient! Die Unacht- samkeit, die Sicherheit der meisten Leute in Jerusalem zwang ihn also zu dieser schönsten und thätigsten Probe seiner Liebe. Er weint, und thut bey diesen Thränen die besten, die redlichsten Wünsche für sie, für ihre Erwe- ckung und Erleuchtung. Von seinen vielen Arbeiten sagt er nichts, er wirft ihnen seine Verfolgungen nicht vor, er äußert kein rachsüchtiges, kein schadenfrohes Herz, er wird auch nicht müde, nicht verdrüßlich, er überläßt sie nicht ihrem Unglück, er flucht den Pharisäern nicht. Im Affect seiner grenzenlosen Liebe dachte er nicht an diese verächtliche Schlangenbrut. Der große Haufen des gemeinen Mannes, die alle, die von jenen so viel Un- terricht in der Religion hätten empfangen sollen, daß sie ihn, als er auftrat, gleich mit völliger Ueberzeugung als den N 5
Ueber die Thränen Jeſu Chriſti. gen jezt ſchneller auf mächtige Empfindungen, ſein gan-zes Geſicht wird düſter, ſeine Bedaurung geht plötzlich in Mitleiden über, im Grunde der Seele wirds ihm wie einer Mutter, wenn Gott mit ſcharfem Meſſer den Säug- ling von ihr wegſchneidet, das Blut wallt ihm heftiger, die Thränen fallen ihm aus den Augen, es iſt, als wenn er das Schreyen der Feinde, die Werkzeuge der Bela- gerung, den Rauch des Feuers, das Winſeln des Volks, das hundertfältige Elend einer eiſernen Hungersnoth, das Krachen der Häuſer, das Einſtürzen des Tempels, das Würgen der Krieger, die Ströme von Blut, die verſchütteten Straßen, die barbariſche Unbarmherzigkeit der Römer, als wenn er ſchon in allen Gaſfen Tod und Zerſtörung verbreitet ſähe! Ach, ſagt er, wenn doch auch du, du große und geliebte Stadt! es wenig- ſtens heute, jezt noch ernſtlich überlegen wollteſt, was zu deinem wahren Glück dient! Die Unacht- ſamkeit, die Sicherheit der meiſten Leute in Jeruſalem zwang ihn alſo zu dieſer ſchönſten und thätigſten Probe ſeiner Liebe. Er weint, und thut bey dieſen Thränen die beſten, die redlichſten Wünſche für ſie, für ihre Erwe- ckung und Erleuchtung. Von ſeinen vielen Arbeiten ſagt er nichts, er wirft ihnen ſeine Verfolgungen nicht vor, er äußert kein rachſüchtiges, kein ſchadenfrohes Herz, er wird auch nicht müde, nicht verdrüßlich, er überläßt ſie nicht ihrem Unglück, er flucht den Phariſäern nicht. Im Affect ſeiner grenzenloſen Liebe dachte er nicht an dieſe verächtliche Schlangenbrut. Der große Haufen des gemeinen Mannes, die alle, die von jenen ſo viel Un- terricht in der Religion hätten empfangen ſollen, daß ſie ihn, als er auftrat, gleich mit völliger Ueberzeugung als den N 5
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Ueber die Thränen Jeſu Chriſti.
gen jezt ſchneller auf mächtige Empfindungen, ſein gan-
zes Geſicht wird düſter, ſeine Bedaurung geht plötzlich
in Mitleiden über, im Grunde der Seele wirds ihm wie
einer Mutter, wenn Gott mit ſcharfem Meſſer den Säug-
ling von ihr wegſchneidet, das Blut wallt ihm heftiger,
die Thränen fallen ihm aus den Augen, es iſt, als wenn
er das Schreyen der Feinde, die Werkzeuge der Bela-
gerung, den Rauch des Feuers, das Winſeln des Volks,
das hundertfältige Elend einer eiſernen Hungersnoth,
das Krachen der Häuſer, das Einſtürzen des Tempels,
das Würgen der Krieger, die Ströme von Blut, die
verſchütteten Straßen, die barbariſche Unbarmherzigkeit
der Römer, als wenn er ſchon in allen Gaſfen Tod und
Zerſtörung verbreitet ſähe! Ach, ſagt er, wenn doch
auch du, du große und geliebte Stadt! es wenig-
ſtens heute, jezt noch ernſtlich überlegen wollteſt,
was zu deinem wahren Glück dient! Die Unacht-
ſamkeit, die Sicherheit der meiſten Leute in Jeruſalem
zwang ihn alſo zu dieſer ſchönſten und thätigſten Probe
ſeiner Liebe. Er weint, und thut bey dieſen Thränen
die beſten, die redlichſten Wünſche für ſie, für ihre Erwe-
ckung und Erleuchtung. Von ſeinen vielen Arbeiten ſagt er
nichts, er wirft ihnen ſeine Verfolgungen nicht vor, er
äußert kein rachſüchtiges, kein ſchadenfrohes Herz, er
wird auch nicht müde, nicht verdrüßlich, er überläßt ſie
nicht ihrem Unglück, er flucht den Phariſäern nicht.
Im Affect ſeiner grenzenloſen Liebe dachte er nicht an
dieſe verächtliche Schlangenbrut. Der große Haufen
des gemeinen Mannes, die alle, die von jenen ſo viel Un-
terricht in der Religion hätten empfangen ſollen, daß ſie
ihn, als er auftrat, gleich mit völliger Ueberzeugung als
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