Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

und blose Rechtsfaulheit halten 1): vorzüglich aber
mit der Anwendung des wundärztlichen Messers 2)
auf unsern Rechtszustand zu zögern. Wir könnten
dabey leicht auf gesundes Fleisch treffen, das wir
nicht kennen, und so gegen die Zukunft die schwerste
aller Verantwortungen auf uns laden. Auch ist der
geschichtliche Sinn der einzige Schutz gegen eine Art
der Selbsttäuschung, die sich in einzelnen Menschen,
wie in ganzen Völkern und Zeitaltern, immer wie-
derholt, indem wir nämlich dasjenige, was uns eigen
ist, für allgemein menschlich halten. So hatte man
ehemals aus den Institutionen mit Weglassung eini-
ger hervorstehenden Eigenthümlichkeiten ein Natur-
recht gemacht, was man für unmittelbaren Ausspruch
der Vernunft hielt: jetzt ist niemand, der nicht über
dieses Verfahren Mitleid empfände, aber wir sehen
noch täglich Leute, die ihre juristischen Begriffe und
Meynungen blos deshalb für rein vernünftig halten,
weil sie deren Abstammung nicht kennen. Sobald
wir uns nicht unsres individuellen Zusammenhangs
mit dem großen Ganzen der Welt und ihrer Ge-
schichte bewußt werden, müssen wir nothwendig un-
sre Gedanken in einem falschen Lichte von Allgemein-
heit und Ursprünglichkeit erblicken. Dagegen schützt
nur der geschichtliche Sinn, welchen gegen uns selbst
zu kehren gerade die schwerste Anwendung ist.

1) Thibaut a. a. O., S. 52. 55. 60.
2) Thibaut S. 60.
H 2

und bloſe Rechtsfaulheit halten 1): vorzüglich aber
mit der Anwendung des wundärztlichen Meſſers 2)
auf unſern Rechtszuſtand zu zögern. Wir könnten
dabey leicht auf geſundes Fleiſch treffen, das wir
nicht kennen, und ſo gegen die Zukunft die ſchwerſte
aller Verantwortungen auf uns laden. Auch iſt der
geſchichtliche Sinn der einzige Schutz gegen eine Art
der Selbſttäuſchung, die ſich in einzelnen Menſchen,
wie in ganzen Völkern und Zeitaltern, immer wie-
derholt, indem wir nämlich dasjenige, was uns eigen
iſt, für allgemein menſchlich halten. So hatte man
ehemals aus den Inſtitutionen mit Weglaſſung eini-
ger hervorſtehenden Eigenthümlichkeiten ein Natur-
recht gemacht, was man für unmittelbaren Ausſpruch
der Vernunft hielt: jetzt iſt niemand, der nicht über
dieſes Verfahren Mitleid empfände, aber wir ſehen
noch täglich Leute, die ihre juriſtiſchen Begriffe und
Meynungen blos deshalb für rein vernünftig halten,
weil ſie deren Abſtammung nicht kennen. Sobald
wir uns nicht unſres individuellen Zuſammenhangs
mit dem großen Ganzen der Welt und ihrer Ge-
ſchichte bewußt werden, müſſen wir nothwendig un-
ſre Gedanken in einem falſchen Lichte von Allgemein-
heit und Urſprünglichkeit erblicken. Dagegen ſchützt
nur der geſchichtliche Sinn, welchen gegen uns ſelbſt
zu kehren gerade die ſchwerſte Anwendung iſt.

1) Thibaut a. a. O., S. 52. 55. 60.
2) Thibaut S. 60.
H 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0125" n="115"/>
und blo&#x017F;e Rechtsfaulheit halten <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#g">Thibaut</hi> a. a. O., S. 52. 55. 60.</note>: vorzüglich aber<lb/>
mit der Anwendung des wundärztlichen Me&#x017F;&#x017F;ers <note place="foot" n="2)"><hi rendition="#g">Thibaut</hi> S. 60.</note><lb/>
auf un&#x017F;ern Rechtszu&#x017F;tand zu zögern. Wir könnten<lb/>
dabey leicht auf ge&#x017F;undes Flei&#x017F;ch treffen, das wir<lb/>
nicht kennen, und &#x017F;o gegen die Zukunft die &#x017F;chwer&#x017F;te<lb/>
aller Verantwortungen auf uns laden. Auch i&#x017F;t der<lb/>
ge&#x017F;chichtliche Sinn der einzige Schutz gegen eine Art<lb/>
der Selb&#x017F;ttäu&#x017F;chung, die &#x017F;ich in einzelnen Men&#x017F;chen,<lb/>
wie in ganzen Völkern und Zeitaltern, immer wie-<lb/>
derholt, indem wir nämlich dasjenige, was uns eigen<lb/>
i&#x017F;t, für allgemein men&#x017F;chlich halten. So hatte man<lb/>
ehemals aus den In&#x017F;titutionen mit Wegla&#x017F;&#x017F;ung eini-<lb/>
ger hervor&#x017F;tehenden Eigenthümlichkeiten ein Natur-<lb/>
recht gemacht, was man für unmittelbaren Aus&#x017F;pruch<lb/>
der Vernunft hielt: jetzt i&#x017F;t niemand, der nicht über<lb/>
die&#x017F;es Verfahren Mitleid empfände, aber wir &#x017F;ehen<lb/>
noch täglich Leute, die ihre juri&#x017F;ti&#x017F;chen Begriffe und<lb/>
Meynungen blos deshalb für rein vernünftig halten,<lb/>
weil &#x017F;ie deren Ab&#x017F;tammung nicht kennen. Sobald<lb/>
wir uns nicht un&#x017F;res individuellen Zu&#x017F;ammenhangs<lb/>
mit dem großen Ganzen der Welt und ihrer Ge-<lb/>
&#x017F;chichte bewußt werden, mü&#x017F;&#x017F;en wir nothwendig un-<lb/>
&#x017F;re Gedanken in einem fal&#x017F;chen Lichte von Allgemein-<lb/>
heit und Ur&#x017F;prünglichkeit erblicken. Dagegen &#x017F;chützt<lb/>
nur der ge&#x017F;chichtliche Sinn, welchen gegen uns &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
zu kehren gerade die &#x017F;chwer&#x017F;te Anwendung i&#x017F;t.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">H 2</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[115/0125] und bloſe Rechtsfaulheit halten 1): vorzüglich aber mit der Anwendung des wundärztlichen Meſſers 2) auf unſern Rechtszuſtand zu zögern. Wir könnten dabey leicht auf geſundes Fleiſch treffen, das wir nicht kennen, und ſo gegen die Zukunft die ſchwerſte aller Verantwortungen auf uns laden. Auch iſt der geſchichtliche Sinn der einzige Schutz gegen eine Art der Selbſttäuſchung, die ſich in einzelnen Menſchen, wie in ganzen Völkern und Zeitaltern, immer wie- derholt, indem wir nämlich dasjenige, was uns eigen iſt, für allgemein menſchlich halten. So hatte man ehemals aus den Inſtitutionen mit Weglaſſung eini- ger hervorſtehenden Eigenthümlichkeiten ein Natur- recht gemacht, was man für unmittelbaren Ausſpruch der Vernunft hielt: jetzt iſt niemand, der nicht über dieſes Verfahren Mitleid empfände, aber wir ſehen noch täglich Leute, die ihre juriſtiſchen Begriffe und Meynungen blos deshalb für rein vernünftig halten, weil ſie deren Abſtammung nicht kennen. Sobald wir uns nicht unſres individuellen Zuſammenhangs mit dem großen Ganzen der Welt und ihrer Ge- ſchichte bewußt werden, müſſen wir nothwendig un- ſre Gedanken in einem falſchen Lichte von Allgemein- heit und Urſprünglichkeit erblicken. Dagegen ſchützt nur der geſchichtliche Sinn, welchen gegen uns ſelbſt zu kehren gerade die ſchwerſte Anwendung iſt. 1) Thibaut a. a. O., S. 52. 55. 60. 2) Thibaut S. 60. H 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_gesetzgebung_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_gesetzgebung_1814/125
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg, 1814, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_gesetzgebung_1814/125>, abgerufen am 04.12.2024.